China: Kinder von Todeskandidaten:Zum Leben verurteilt

Xiao Sheng war fünf, als die Mutter den Vater erstach. Weil der Sohn einer Verbrecherin Unglück bringt, wollte sich niemand um den Jungen kümmern. Die Hilfsorganisation "Morning Tears" bietet Kindern ein neues Zuhause, deren Eltern in chinesischen Gefängnissen auf ihre Hinrichtung warten.

Philipp Mattheis

Koen Sevenants ist ein großer Mann mit dickem Bauch und rotem Bart. Drei kleine Kinder turnen lachend auf ihm herum. Doch ihm stehen die Tränen in den Augen, als er die Geschichte von Xiao Sheng erzählt.

Morning tears

Die Hilfsorganisation "Morning Tears" kümmert sich in China um Kinder, deren Eltern im Gefängnis auf ihre Hinrichtung warten.

(Foto: www.morningtears.com)

Jahrelang hatte Shengs Vater die Mutter des fünfjährigen Jungen geschlagen. Irgendwann hatte sie die Misshandlungen nicht mehr ausgehalten und sah keinen anderen Ausweg mehr: Sie schlich sich von hinten an ihren Mann heran und stach mit seinem Küchenmesser zu. Immer wieder. Ihrem Sohn erzählte sie nach der Tat, sie habe es einfach nicht mehr ausgehalten.

Um die Kinder will sich niemand kümmern

Kurze Zeit später erschien die Polizei in der Bauernstube in der chinesischen Provinz Shaanxi. Die Mutter wurde wegen Mordes angeklagt und zum Tod durch Genickschuss verurteilt. Im Gefängnis wartete sie auf die Vollstreckung.

Um den kleinen Xiao Sheng wollte sich nun niemand mehr kümmern. Die Leute im Dorf sagten, er sei das Kind einer Verbrecherin, er bringe Unglück. Der einzige verbliebene Großvater war der Vater seines Vaters - und der wollte mit dem Sohn der Mörderin seines Sohnes nichts zu tun haben.

"Als er bei uns ankam, sprach er kaum", sagt Koen Sevenants. "Er zitterte am ganzen Körper und war sehr aggressiv anderen Kindern gegenüber. Xiao Sheng verstand nicht, warum sie nun ihn bestraften, warum sie ihm jetzt auch noch seine Mutter wegnahmen."

Aber mit der Zeit begann Xiao Sheng, sich zu öffnen, er lachte manchmal und spielte mit den anderen Kindern.

Der 39-jährige Belgier Koen Sevenants leitet "Morning Tears", ein nichtstaatliches Projekt, das sich um die Kinder von Eltern kümmert, die zum Tode verurteilt sind. China ist trauriger Spitzenreiter in der Statistik der meisten Todesurteile auf der Welt. Wie viele genau es sind, ist nicht bekannt - die Regierung veröffentlicht nichts zu diesem Thema. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International rechnen mit mehreren Tausend vollstreckten Todesurteilen pro Jahr. 55 Delikte werden in China mit dem Tod bestraft, darunter auch Korruption und Steuerhinterziehung.

Um die Kinder der Exekutierten kümmert sich oft niemand. In westlichen Ländern werden solche Kinder meist vom Jugendamt bei Pflegefamilien oder in Heimen untergebracht. "In China gibt es kein soziales Netz, das diese Kinder auffängt", sagt Sevenants. Staatliche Waisenheime nehmen nur Kinder auf, wenn beide Elternteile und die Großeltern nicht mehr leben. "Verwandte wollen oder können sie oft nicht aufnehmen. Kinder von Straftätern sind in der bäuerlichen Welt im Westen Chinas stigmatisiert." Viele landen auf der Straße. "Einige der Kinder sind besonders aggressiv, weil sie auf der Straße gelernt haben: Der Stärkste bekommt am meisten zu essen", sagt Sevenants.

30 Kinder im Alter zwischen fünf und 14 Jahren schlafen, essen und leben in dem Heim nahe der Großstadt Zhengzhou in der Provinz Henan, weit entfernt von der glitzernden modernen Welt Pekings und Shanghais. Auf dem Gelände stehen drei Häuser, zwei weitere sind geplant. Jeweils sechs Kinder wohnen mit zwei Sozialarbeitern in einem Apartment. Die Helfer kümmern sich um das Essen der Kinder, sorgen dafür, dass sie ihre Hausaufgaben machen und spielen mit ihnen. Sie begleiten sie auch bei Besuchen im Gefängnis.

Morgens ist die Trauer am größten

"Morning Tears" heißt die NGO, weil die Trauer der Kinder morgens am größten ist. Seit 1998 leitet Koen Sevenants das Projekt. Den Grundstein legten zwei Jahre zuvor drei chinesische Richter, die beschlossen, etwas für die Kinder der Eltern zu tun, die sie selbst zum Tode oder zu langen Haftstrafen verurteilt hatten. Sevenants erfuhr zufällig von dem Projekt und übernahm, als die Richter wegen Geldschwierigkeiten aufgeben mussten.

Über 600 solcher Kinder haben seitdem bei "Morning Tears" gelebt. Die meisten Fälle ähneln dem von Xiao Sheng. Oft, erzählt Sevenants, sei es die Mutter, die nach Jahren der Misshandlung ihren Ehemann umbringt. Sie ersticht ihn mit einem Küchenmesser oder mischt ihm Gift in den Reis. Darauf steht in China die Todesstrafe oder eine lange Haftstrafe.

"Bring deinem Vater diese Schüssel Reis mit Gift"

So wie bei der Mutter von Xiao Liu, erzählt Sevenants. Sie sagte zu der Sechsjährigen: "Bring deinem Vater diese Schüssel Reis mit Gift." Liu fragte: "Warum?" Die Mutter antwortete, er habe es verdient. Liu reichte ihrem Vater die Schüssel, wenig später war er tot. Kurz darauf nahm die Polizei die Mutter fest. Sie wurde zu 16 Jahren Haft verurteilt.

Xiao Liu blieb zunächst alleine, dann nahm sich eine Tante ihrer an. Doch Liu konnte nicht mehr zur Schule gehen: Niemand wollte mit der Tochter einer Mörderin etwas zu tun haben.

Als die Tante von "Morning Tears" hörte, brachte sie Liu dorthin. Das Mädchen war nicht auffällig, doch als sie älter wurde, begann sie exzessiv zu lernen. Sie war, erzählt Sevenants, der Meinung, den Tod ihres Vaters mitverschuldet zu haben. Im Alter von zehn Jahren veränderte sich Lius Haltung zu ihrer Mutter langsam, mit 13 lehnte sie es ab, sie weiterhin im Gefängnis zu besuchen.

"Morning Tears" versucht, den Kindern beim Trauern zu helfen. "Ein normaler Trauerprozess gliedert sich in vier Phasen", sagt Sevenants. "In der ersten Phase verspürt man eine große Trauer. Daraus wird Zorn, es wird versucht, einen Schuldigen ausfindig zu machen. In der dritten Phase entsteht Verzweiflung und eine tiefe Depression. In der vierten Phase folgt die Erholung und schließlich die Verarbeitung des Geschehenen."

Fast alle Kinder, die zu "Morning Tears" kommen, haben psychische Probleme. Sie leiden unter Albträumen, machen ins Bett oder können nur schlafen, wenn das Licht an ist. Andere haben verlernt zu spielen, weil sie ihre Umwelt nicht mehr als sicher wahrnehmen. Die Prognosen für die Kinder sind nicht immer gut: Viele haben auch später noch große Probleme, im Leben zurechtzukommen.

Rache für die Mutter

Die Organisation ist abhängig von Spenden und vom guten Willen der Behörden. "Anfangs war die Regierung sehr skeptisch", sagte Signe Kühl. Die 46-jährige Dänin arbeitet wie viele andere Freiwillige aus Europa unentgeltlich für das Shanghai-Büro von "Morning Tears". Bald soll auch hier ein Heim wie in Zhengzhou entstehen. Weitere gibt es bereits in Xian und Chengdu.

Mittlerweile arbeitet "Morning Tears" international. Es gibt ähnliche Projekte in Russland, Spanien und in Belgien. Im April dieses Jahres gewann "Morning Tears" den "China Charity Award", die höchste Auszeichnung, welche die Zentralregierung an NGOs vergibt.

Abhängig vom Wohlwollen der Politik

Immer öfter ist es die Polizei, die inhaftierten Müttern vorschlägt, ihr Kind zu "Morning Tears" zu bringen. Für Koen Sevenants und seine Mitarbeiter macht das die Arbeit in der chinesischen Provinz mittlerweile zwar etwas einfacher, doch ist ihre Arbeit noch immer vom Wohlwollen der Politiker abhängig. "Theoretisch kann jeder Tag das Aus bedeuten. Dies und die Schicksale der Kinder machen diese Arbeit emotional sehr anstrengend", sagt er.

Dann erzählt er die Geschichte von Xiao Sheng zu Ende. Der Junge hatte sich gut entwickelt. Er lachte nach einer gewissen Zeit wieder, er schlug die anderen Kinder nicht mehr, er war sogar so etwas wie ihr Anführer geworden. Sie hörten darauf, was er sagte. Er erklärte ihnen, was im Heim erlaubt war und was nicht. Er mochte es, zu musizieren. Und er wusste, seine Mutter würde bald sterben. Doch jedes Mal, wenn Xiao Sheng sie im Gefängnis besuchte, war die Freude, sie zu sehen, größer als die Angst, sie endgültig zu verlieren.

Am Morgen des Tages, als sie Xiao Shengs Mutter erschossen, setzten sich Koen, Xiao Sheng und eine Betreuerin in ein Zimmer und zündeten eine Kerze an. Sie sagten ihm: Am Ende des Tages, wenn diese Kerze heruntergebrannt ist, wird deine Mutter tot sein. Sie sprachen und spielten, lachten und weinten. Am Ende verstand Xiao Sheng die Sache ein wenig mehr. Doch das Unglaubliche zu akzeptieren, gelang ihm nicht. "Er sprach viel von Rache", sagt Sevenants. "Er wollte noch immer einen Schuldigen finden."

Xiao Sheng verließ irgendwann das Heim in Zhengzhou, und eines Tages erfuhr Koen von einem Freund Xiao Shengs, dass er bei der Explosion eines Bergwerks ums Leben gekommen war - ein Unfall, wie er oft in China vorkommt. Da war er gerade 15 Jahre alt.

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