Atomanlage Sellafield:Verdächtige Proben von toten Atomarbeitern

Verstorbenen Sellafield-Mitarbeitern wurden Organe entnommen und auf Radioaktivität überprüft - ohne Einwilligung der Angehörigen. Nun ermitteln die Behörden.

Alexander Menden

In Großbritannien schlägt die Entnahme von Gewebeproben bei verstorbenen Mitarbeitern der Atomanlage Sellafield hohe Wellen. Industrieminister Alistair Darling, der vergangene Woche eine Untersuchung der Vorfälle angeordnet hatte, kündigte nun an, dass diese auf weitere Anlagen ausgedehnt werde.

Sellafield, AP

Die umstrittene Wiederaufbereitungsanlage Sellafield an der irischen See.

(Foto: Foto: AP)

Die ersten Hinweise stammten von der Ingenieurs-Gewerkschaft Prospect. Ihr zufolge waren zwischen 1961 und 1992 insgesamt 65 toten Mitarbeitern des nordwestenglischen Atomkraftwerks Gewebeproben, in einigen Fällen auch ganze Organe entnommen und auf Radioaktivität untersucht worden.

Organentnahmen auch an anderen Standorten

Dabei wurde häufig nicht die Einwilligung der Angehörigen eingeholt. Nun soll geklärt werden, warum die Untersuchungen angeordnet und ob dabei die Vorschriften eingehalten wurden.

Wie Darling bekannt gab, soll der mit der Sellafield-Untersuchung betraute königliche Gerichtsmediziner (Coroner) Michael Redfern noch weitere Atomanlagen prüfen. Es gebe Anhaltspunkte, dass auch bei Verstorbenen an anderen Standorten Organe entnommen worden seien, um sie auf radioaktive Spuren zu untersuchen, sagte Darling.

Betroffen ist unter anderem das Forschungszentrum in Harwell, Standort des ältesten britischen Atomreaktors. Dort sollen verstorbene Mitarbeiter bis Anfang der Achtziger Jahre regelmäßig auf Radioaktivität untersucht worden sein.

Nach Informationen der Tageszeitung The Guardian waren bei den Untersuchungen des Gewebes von Sellafield-Mitarbeitern und Menschen aus der Umgebung des Atomkraftwerks höhere Plutoniumanreicherungen gefunden worden als bei Menschen aus anderen Teilen Großbritanniens.

Organe waren offenbar plutoniumverseucht

Eine Studie kam zu dem Ergebnis, es gebe ,,starke Indizien'' dafür, dass Plutonium aus dem Kühlwasserdampf des Atomkraftwerks in das untersuchte Gewebe gelangt sei. Der britische Pathologenverband RCPath hat indessen darauf hingewiesen, dass die Entnahme von Gewebe bei Mitarbeitern des Atomkraftwerks im fraglichen Zeitraum durchaus legitime Praxis gewesen sei. Erst mit dem sogenannten ,,Human Tissue Act'' von 2004 seien die Richtlinien verschärft worden.

Der mit der Regierungs-Untersuchung beauftragte Redfern ist einer der renommiertesten Coroner des Landes. Dieses Amt, das bereits seit mehr als 800 Jahren besteht, vereint in sich Pflichten und Vollmachten eines Untersuchungsrichters und Leichenbeschauers. Coroner werden bei plötzlichen oder verdächtigen Todesfälle hinzugezogen, aber auch wenn der Verdacht des Missbrauchs von Leichenteilen besteht. RCPath zufolge waren 56 der 65 fraglichen Gewebe-Entnahmen in Sellafield selbst bereits Untersuchungen eines Coroners vorangegangen.

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