100 Jahre "Mensch ärgere Dich nicht":Bühne für Schadenfreude

95 Jahre 'Mensch ärgere Dich nicht'

Das Geheimnis: ein paar bunte Figuren und viel Schadenfreude.

(Foto: dpa)

Ein Brett, bunte Figuren und ein Würfel - mehr braucht es nicht, um Millionen Menschen in die Raserei zu treben. Vor einem Jahrhundert erfand der Tüftler Josef Friedrich Schmidt das Gesellschaftsspiel "Mensch ärgere Dich nicht".

Von Johann Osel

Heinz-Rüdiger hat es nicht leicht in dieser Familie. "Mensch ärgere Dich nicht" wird gespielt, mit Vater und Mutter an dem kleinen Küchentisch. Der Junge hat wenig Lust dazu, will partout nicht mehr würfeln. "Dann würfel' halt ich für dich", entscheidet der Vater, würfelt nur eine Eins. "Ha, jetzt bist gleich draußen." Als der Sohn frustriert die Spielfiguren umwirft, folgt eine Ohrfeige, "Du Rotzlöffel", raunzt der Vater und bietet eine weitere pädagogische Meisterleistung. Das Brettspiel werde in den Italien-Urlaub mitgenommen, droht er: "Und dann wird so lang gespielt, bis du den Ernst von dem Spiel begreifst!" Mehr als 30 Jahre alt ist dieser Sketch von Gerhard Polt. Gleichbleibend amüsant, und gleichbleibend aus dem Leben gegriffen. "Mensch ärgere Dich nicht" - der Imperativ, den das Brettspiel verlangt, wird nur selten eingehalten.

Die Landeskriminalämter führen keine Statistiken über gesellschaftsspielbedingte Gewalt. Sollten sie besser mal. Ein Blick in Polizeimeldungen der vergangenen Jahre, zwei Beispiele: Da mussten Polizisten in Unterfranken bei einem Rentnerpaar und deren Sohn deeskalierend eingreifen. Laut Protokoll hatte die 72-jährige Frau ihrem Gatten einen Würfel abgenommen - "wegen der Chancengleichheit". Nach einem Zornesausbruch des Bestohlenen folgte die Flucht der Frau aus der Wohnung, sie wählte den Notruf. In Kaiserslautern zückte ein 51-Jähriger beim "Mensch ärgere Dich nicht" gar ein Küchenmesser, seine Lebensgefährtin wurde verletzt.

Ratgeberforen im Internet sind voll von derlei Situationen: Erwachsene Männer knallen sich Würfelbecher an die Köpfe; Mütter und Töchter, Brüder und Schwestern, Großeltern und Enkel verteidigen ihre Regelauslegungen, als ginge es um Leben und Tod; in frischen Partnerschaften kommt das wahre Ich des Anderen zum Vorschein; Eltern fragen sich, warum ihre Sprösslinge nicht verlieren können, erkundigen sich nach therapeutischer Hilfe.

Aggressionspotenzial eines digitalen Massenmords

Eine Runde "Mensch ärgere Dich nicht", schreibt ein junger Mann in einem Portal, "kann mich wütender machen als jeder Ego-Shooter". Ein simples Brett, ein paar bunte Figürchen sowie Würfel übertreffen demnach das Aggressionspotenzial eines digitalen Massenmords am Computer. Dabei sollten Brettspiele eigentlich das Gegenteil bieten, kluge Unterhaltung oder zumindest Ablenkung. So notierte der Schriftsteller August Strindberg 1893: "Das Brettspiel wird als Blitzableiter im Hause eingeführt, die gefährliche Unterhaltung wird durch das Klappern der Würfel ersetzt." Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1905 definiert die meisten Gesellschaftsspiele als "Ruhespiele" - und zwar "zur Schärfung der Aufmerksamkeit, zur Betätigung von Witz und Geistesgegenwart".

Und die Erfindung des "Mensch ärgere Dich nicht"-Spiels war auch konkret so gedacht - zur Beruhigung dreier lebhafter Burschen. Vor hundert Jahren ist das Spiel in größeren Mengen in die Öffentlichkeit gelangt, die Herstellerfirma sieht das Jahr 1914 daher als das offizielle Geburtsjahr. Der Münchner Kaufmann Josef Friedrich Schmidt hatte einige Jahre zuvor bereits das Brettspiel ausgetüftelt, um seine Söhne zu Hause in der kleinen Wohnung im Zaum zu halten. Bei denen kam das Konstrukt aus einem Hutkarton und Holzteilchen gut an, für weitere selbst gebastelte Exemplare fand Schmidt aber keine Abnehmer.

War die Spieleherstellung etwa nicht das richtige Geschäftsfeld für ihn? Hatte er doch in den Vorjahren so einiges probiert, war als Marktstandbetreiber angemeldet, versuchte sich angeblich in der Herstellung neuer chemischer Tinkturen, handelte mit Spirituosen. Doch Schmidt, ein gebürtiger Oberpfälzer, blieb hartnäckig, ließ Anfang 1914 einige Tausend Exemplare von "Mensch ärgere Dich nicht" professionell fabrizieren - und schickte diese dann, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als Spende an Kriegslazarette.

Vom Schlachtdfeld in die Wohnzimmer

Das war nichts Ungewöhnliches: Damals wurde die Bevölkerung zu sogenannten Liebesgaben für die Front aufgerufen - Stricksocken, Süßwaren, Bücher, Spiele, andere nützliche Dinge. Bei aller Mildtätigkeit, die man dem Münchner Kaufmann zugutehalten kann, ist die Spende wohl auch als Werbemaßnahme zu sehen. Als solche zeigte sie eine formidable Wirkung: Soldaten fanden Freude an dem Spiel, Schmidt meldete einen Verlag als Gewerbe an, das Spiel wurde bekannter. Nach der Rückkehr der Soldaten gelangte das Spiel endgültig in die Wohnstuben. Schon 1920 hatte Schmidt nach Firmenangaben eine Million Spiele verkauft. Laut dem Hersteller geht das Spiel heute noch jedes Jahr 400 000 Mal über die Ladentheke, seit der Erfindung insgesamt mehr als 90 Millionen Mal.

Die Idee war freilich nicht völlig neu, Schmidt vereinfachte die Regeln älterer Spiele, konzentrierte sich aufs Wesentliche: die Figuren aus den Startfeldern in die Häuschen bringen, würfeln, ziehen, gegnerische Figuren rauswerfen. Ein flotter Name und die auffällig rote Verpackung mit einem erbosten Männchen machten das Produkt komplett. Das 1896 in England auf den Markt gebrachte "Ludo" darf als Vorläufer gelten, schon dieses Spiel ähnelte aber dem mehr als 2000 Jahre alten indischen "Pachisi".

Spielgeschichte ist ja auch Kulturgeschichte: Verwandte Formen des späteren Backgammon wurden bereits in der Antike gespielt, später kamen Mühle und Schach dazu, im Mittelalter Würfelspiele wie "Puff", aus dem tatsächlich der Begriff für ein Bordell entstanden sein soll. Doch hatte das Spielen - stand es doch im Gegensatz zur harten Arbeit - stets den Ruch des Unehrenhaften. Der Straßburger Dichter Sebastian Brant schrieb Ende des 15. Jahrhunderts: "Spiel mag gar selten sin on Sünd, ein Spieler ist nicht Gottes Fründ, die Spieler sind des Teufels Kind." Und lange hielt sich diese Haltung gegenüber Spielsteinen, Brettern, Karten und Würfeln.

Der Kulturhistoriker Johannes Scherr blickte Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner "Deutschen Kultur- und Sittengeschichte" zurück auf das Zeitalter der Reformation. Dabei benennt er verschiedene Wertigkeiten von Vergnügungen: "Zu niederem Zeitvertreib lockten Brettspiel, Würfel und Karten, zu edlerem die Gesangübungen und dramatischen Darstellungen." Gleichwohl berichten Quellen wie der sächsische Pfarrer Georg Wesenigk (1618-1688): "ja auch grosse herren schämen sich heutigen tages des spiel-brettes nicht."

Die Spiele der Erwachsenen

Neuheitenschau zur Spielwarenmesse

Bis heute höchst beliebt: "'Mensch ärgere Dich nicht" wurde mehr als 70 Millionen Mal verkauft.

(Foto: dpa)

Brettspiele waren lange Zeit eher Erwachsenen vorbehalten. Als im 18. Jahrhundert Gesellschaftsspiele beim aufstrebenden Bürgertum Mode wurden, wussten die Spieler sich klar von den niederen Spieltrieben einfacher Stände abzugrenzen. In einer Sammlung von Spielanleitungen aus dieser Zeit - mit dem Namen "Frohe Runde, zur Erheiterung und Unterhaltung gebildeter Kreise" - schreibt der Herausgeber: Er habe Spiele ausgewählt, "welche bei einer gewissen Einfachheit doch eine allgemeine dauernde Geistesregung, einen Elektrophor zu Witzfunken (...) in sich fassen."

Und der Lehrer und Literat Gustav Schwab berichtet aus dem Innenleben einer klösterlichen Schule: "Zugleich wurde ängstlich darauf gesehen, daß die fröhliche Erquickung der Zöglinge in ehrbaren, christlichen und klösterlichen Schranken eingeschlossen bleibe." Was "nur ehrliche Ergötzungen wie Musik und eine selten genug gestattete Promenade" erlaubte, "und nicht nur Karten und Würfel, wie billig, sondern auch das Brettspiel waren verboten."

Zwei Entwicklungen - abgesehen von der Möglichkeit der industriellen Produktion von Spielen - änderten diese Haltung allmählich: die Entdeckung der Kindheit und die Entdeckung der Freizeit. Etwa vom Jahr 1860 an wurde klarer zwischen Arbeitszeit und Freizeit unterschieden, unterstützt durch die gewerkschaftliche Bewegung. Auf einen gesetzlich geregelten "Normalarbeitstag", wie ihn Sozialdemokraten gefordert hatten, konnte man sich zwar bis Ende des Kaiserreichs nicht einigen. "Wer empfindet nicht das Bedürfnis zu helfen, wenn er den Arbeiter gegen den Schluss des Arbeitstages müde und ruhebedürftig nach Hause kommen sieht", sagte Otto von Bismarck 1884 in einer Rede - um sogleich zu ergänzen, dass eine gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit unmöglich sei. In vielen Städten, Branchen und Fabriken aber konnte ein Zwölf- oder gar Zehnstundentag erreicht werden.

Spielen um zu lernen

Hinzu kam eben: Die Kindheit wurde erst im 19. Jahrhundert wirklich als eigener Lebensabschnitt definiert. Doch der Nachwuchs solle schon auch was dabei lernen, dachte vor allem das Bürgertum. Reisespiele kamen auf den Markt, die geografische Kenntnisse vermitteln sollten. 1884 erschien "Reise um die Erde", nach Motiven des Buchs von Jules Verne. Dessen Verleger Otto Maier aus Ravensburg warb mit dem Motto: "Ernst und Scherz aufs Glücklichste vereint." Bald folgten Lernspiele, Quartette und Bastelkästen im Sortiment.

"Fast jedes Spiel ist eigentlich ein Lernspiel", sagt Ulrich Blum. Er ist Vorsitzender der Spiele-Autoren-Zunft, eines Vereins von Entwicklern mit mehr als 400 Mitgliedern. Dabei müsse es nicht um Lernen im Sinne von Schulwissen gehen - sondern um strategisches Denken, um Entscheidungsfindung und soziale Interaktion. Auch das wütende Abräumen des Spielfelds könne man dazu zählen.

Doch zurück zur Entstehung von "Mensch ärgere Dich nicht". Warum wurde das Spiel vom Jahr 1914 an zum Erfolg, während Erfinder Schmidt in den Vorjahren noch auf den Prototypen sitzenblieb? Der Schriftsteller Klaus Ungerer hat dies vor einigen Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu erklären versucht, mit der Weltuntergangsstimmung der Zeit, mit den Erfahrungen des Krieges: "Kein Spiel der Könige war dies mehr, keiner Figur und keiner Karte wurde hier der feste Platz in einer ständischen Ordnung zugewiesen, der Pöppel, der nun übers Brett gescheucht wurde, er war gesichtslos, wie es die Verfügungsmasse Mensch in Krieg, Kapitalismus, Sozialismus und Faschismus nun einmal ist, die Repräsentanz des Ich auf dem Spielfeld fand sich in keine Märchenfassade mehr eingeordnet."

Schadenfreude als Erfolgsgeheimnis

Bei aller Metaphorik dieser Analyse: die aufgehobenen Hierarchien des Spiels könnten tatsächlich sein Erfolgsgeheimnis sein. Zu erwähnen ist natürlich auch der Gedanke der Schadenfreude beim Rauswerfen anderer Figuren.

Für Josef Friedrich Schmidt jedenfalls war die Idee der Durchbruch. Mit dem Erfolg von "Mensch ärgere Dich nicht" wuchs sein Unternehmen. Andere Spiele wurden hergestellt, Quartette, Webstühle für Kinder, Baukästen - Produkte auch im Sinne eines pädagogischen Spielanspruchs. 1936 machte sich Schmidts ältester Sohn in Nürnberg mit einer eigenen Fabrik selbständig. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Produktionsstätten beider Unternehmen zerstört, 1948 zunächst als selbständige Betriebe wieder aufgebaut, sie fusionierten dann im Jahr 1970. In den 80er-Jahren entwickelte sich die Firma zum zweitgrößten Hersteller Deutschlands, 1997 allerdings kam es zum Konkurs. Seitdem gehört Schmidt Spiele zur Berliner Blatz-Gruppe, zu deren beliebtesten Spielen immer noch "Mensch ärgere Dich nicht" zählt.

Auf dem Spielemarkt von heute sieht man oft hochkomplexe Brettwelten, mit Regelbüchern dick wie ein kleiner Roman. "Das ist aber nur der eine Trend", sagt Spiele-Erfinder Blum. Der andere gehe zu reduzierten, übersichtlichen Spielen, die man schnell und unkompliziert beginnen könne - dabei brauche es aber immer "einen gewissen Pfiff". Josef Friedrich Schmidt hat diesen vor hundert Jahren entdeckt.

Letzte Frage an den Experten Blum: Soll man als Eltern seine Kinder beim Spiel rauswerfen, sich etwa verhalten wie Gerhard Polt im Sketch? Oder die Kleinen absichtlich gewinnen lassen? 40 Prozent der Väter und Mütter können laut einer Umfrage ihren Nachwuchs nicht verlieren sehen und schummeln bei Spielen zu dessen Gunsten. "Das kommt auf das Alter der Kinder an, und auf die Eltern. Nicht jeder kann es ertragen, wenn das Kind eine Stunde in der Ecke schmollt", sagt Blum. Durchgängig gewinnen lassen - das hält er für problematisch, rät lieber zu Hilfestellungen, welcher Zug gerade am besten sei: "Verlieren-Lernen gehört als Komponente zum Spiel unbedingt dazu." Und im Zweifelsfall ja auch das Ärgern.

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