Zwischenstopp:Magdeburg

Lesezeit: 2 min

Für unsere Sommerserie haben wir Autorinnen und Autoren um Texte über Orte des Aufbruchs oder Innehaltens, über Transiträume und Haltestellen aller Art gebeten. Marcel Beyer berichtet vom Umsteigen in Magdeburg.

Für unsere Sommerserie haben wir Autorinnen und Autoren um Texte über Orte des Aufbruchs oder Innehaltens, über Transiträume und Haltestellen aller Art in nah und fern gebeten.

In diesem Landstrich heißen Orte noch Stumsdorf und Güterglück, sofern man den Aufschriften an den verfallenden Bahnhofsgebäuden traut. Sie heißen auch Niederndodeleben. Und alle Wege führen nach Magdeburg: am Morgen durch feine, durchscheinende Nebelfelder, am späteren Nachmittag durch eine gleichmäßig grau-grüne Welt, aus der das rötliche Fell der Rehe nur um so leuchtender hervorsticht. Hat der Zug Magdeburg erreicht, fragt man sich jedesmal wieder, warum. Vielleicht nur, um den Reisenden hinaus zu locken in das ausnehmend schöne Raucherlicht über den Gleisen. In der Luft liegt eine Mischung aus Rückbaustaub und Partikeln wild wachsender Pflanzen und einer schwermütigen Erinnerung an das Industriezeitalter.

Man darf nicht unruhig werden, weil auf der Strecke zwischen Leipzig und Braunschweig beim letzten Halt im Osten ein Fahrtrichtungswechsel erfolgt. Sechs Minuten Zeit gibt einem der Fahrplan, um in Gesellschaft anderer Reisender und der Zugbegleiter auf dem Bahnsteig zu stehen und sich vorzustellen, jenseits des Bahnhofsausgangs liege eine Stadt. Man raucht eine Zigarette. Schaut in die Sonne. Ins Wolkengeschiebe. Schaut hinunter auf einen zwischen Gleisanlagen und Durchgangsstraße eingeklemmten Platz. Aus dem Augenwinkel hält man den Triebfahrzeugführer mit seiner Provianttasche im Blick, wie er den langen Bahnsteig abschreitet, vom einen Ende des Zuges zum anderen. An ihm liegt es, ob wir weiterfahren oder bleiben.

Mal übt ein narbiger Dreißigjähriger auf dem Weg zur Treppe den elastischen Gang. Auf seiner grauen Jogginghose steht, gestürzt: "Pro Violence" - eine Magdeburger Naziklamottenmarke, deren Streetwear der Schleudergang nicht gut bekommt. Mal freut sich ein friedliches Gothikpaar in bodenlangen schwarzen Mänteln, wieder zu Hause zu sein. Mal wartet ein Rollstuhlfahrer mit Kauflandbeutel auf dem Schoß, dass sich die Aufzugtür öffnet. Mal bringt ein Mann mit grimmigem Ostsorgengesicht seine Mutter zum Zug. Als er ihren Koffer in den Waggon hebt, sehe ich, sein Hintern ist links mit "Total War" und rechts mit "Is Coming" beflockt.

Selten einmal steigt hier der Westen ein. Das heißt: Kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, wüsste man schon nicht mehr zu sagen, ob die Gruppe mit der wunderlichen T-Shirt-Beschriftung "Berumbur - Verein für feine Lebensart" tatsächlich in Magdeburg zugestiegen ist. Möglich, die vier Männer, die man für eine Vereinigung freundlicher Hobbit-Versteher halten könnte, haben sich aus dem Nichts heraus materialisiert.

Aus diesem Nichts des Ostens, das sich bald dreißig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer völlig anders darbietet als das Nichts des Westens, der vor uns liegt, wo sich die an der Strecke aufgereihten Orte bis an den Rand des Ruhrgebiets ein und denselben Stadtmarketing-Slogan teilen könnten: "Reichtum braucht kein Gesicht."

Der Triebfahrzeugführer hat seinen Fahrerstand erklommen. Die Magdeburg-Routiniers wissen, es wird noch eine Weile dauern, bis die Fahrt weitergeht. Außerdem sorgen die Zugbegleiter, die ihre Zigaretten stets als erste ausdrücken, jedesmal zuverlässig dafür, dass niemand zurückgelassen wird.

Als sei er über sich selbst erstaunt, meint ein Mitreisender: "Ich bin das erste Mal in meinem Leben in Magdeburg." Welche Folgen das für seine Existenz haben könnte, mag er sich in diesem Moment nicht ausmalen. Auch traut er der Ruhe auf dem Bahnsteig nicht, mit einer Hand klammert er sich an den Haltegriff in der offenen Waggontür und erzählt lieber rasch einen Witz: "Kennen Sie den? Treffen sich zwei Schneeflocken."

Keine Frage: Sollten sich einmal zwei Schneeflocken treffen, dann hier.

Marcel Beyer , geboren 1965 in Tailfingen, lebt in Dresden. Zuletzt erschien von ihm der Prosaband "Das blindgeweinte Jahrhundert" (2017).

© SZ vom 28.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: