"Zwischen uns" im Kino:Lieber Fische als Menschen

"Zwischen uns" im Kino: Lustiges Gefühleraten mit Asperger: Liv Lisa Fries, Jona Eisenblätter in "Zwischen uns".

Lustiges Gefühleraten mit Asperger: Liv Lisa Fries, Jona Eisenblätter in "Zwischen uns".

(Foto: Wild Bunch)

Liv Lisa Fries spielt in "Zwischen uns" die Mutter eines Jungen mit Asperger. Anstatt zu pathologisieren, lenkt der Film den Fokus auf die vermeintlich "normalen" Menschen.

Von Anna Steinbauer

Es ist ein Spiel, eine tägliche Routine zwischen Mutter und Sohn: Beide sitzen nebeneinander vor dem Spiegel. Sie imitiert Gefühlszustände, und er soll anhand ihres Gesichtsausdrucks ablesen, welche Emotion gemeint ist. Die Mutter verzieht ihr Gesicht zu einem breiten Lachen. Erst im zweiten Anlauf und mit Hilfestellung errät der 13-Jährige, dass sie gerade "Freude" gespielt hat.

Eigentlich ein lustiger Zeitvertreib, für den autistischen Felix in Max Feys Debütfilm "Zwischen uns" ist das allerdings eine große Herausforderung - und Überlebenstraining zugleich. Denn der Junge hat Asperger: Mit anderen Menschen zu interagieren, fällt ihm schwer, er schottet sich mit Kopfhörern gegen die Reize der Außenwelt ab, vermeidet Blickkontakt und interessiert sich am meisten für Fische. Gelegentlich hat er Wut- und Panikattacken, was dazu führt, dass er in der Schule als ewiges Problemkind gilt und das Familienleben auf eine harte Probe gestellt wird.

Ganz beiläufig zeigt der Film diese kurze Szene zwischen Mutter und Sohn gleich zu Beginn. Und macht damit unmissverständlich klar, wie traurig und komplex die Thematik ist, der sich Fey behutsam widmet: Erzählt wird die Geschichte einer besonderen Beziehung, bei der der eine Teil vermeintlich unfähig ist, eine Beziehung zu führen, weil ihm zwischenmenschliche Töne fremd sind. Die Stärke des Dramas liegt darin, den unermüdlichen Kampf der Mutter für ihr Kind aus der Perspektive der Mutter zu schildern.

"Babylon Berlin"-Star Liv Lisa Fries verkörpert die beständig zwischen Verzweiflung und Hoffnung schwankende Eva unglaublich eindringlich. Diese ist als alleinerziehende Mutter die einzige Bezugsperson für den Autisten. Da sie nicht gewillt ist, die Stigmatisierung ihres Sohnes hinzunehmen, setzt sie sich beharrlich dafür sein, dass Felix so normal wie möglich leben kann. Das ist gar nicht so einfach und kostet viele Nerven, wenn sie zum Beispiel mal wieder während der Arbeitszeit in die Schule gerufen wird, weil der Sohn weggelaufen ist und der Chef ihr mit Kündigung droht. Oder wenn sie sich am Elternabend anhören muss, wie Felix zum Aggressor erklärt wird und ihm nicht zum ersten Mal der Verweis von der Schule droht.

"Zwischen uns" versucht nicht, das Verhalten des Autisten psychologisch herzuleiten oder zu ergründen, und lenkt damit den Fokus auf die vermeintlich "normalen" Menschen: Wie kommen sie zurecht mit einem, der aus dem Rahmen fällt? Nicht besonders gut. Die Mitschüler und Mitschülerinnen schließen Felix aus oder lachen über ihn, die Erwachsenen inklusive der Klassenlehrerin und der Schulbegleiterin glauben alle zu wissen, was das Beste für ihn ist.

Fey verzichtet darauf, seinen jugendlichen Protagonisten zu pathologisieren

Am wohlsten fühlt sich der 13-Jährige bei seinem Nachbarn Pelle (Thure Lindhardt), einem Fischhändler. Zu ihm baut er Vertrauen auf und begleitet ihn immer öfter auf den örtlichen Fischmarkt. Der Film fängt dieses zarte Band der Freundschaft wunderbar behutsam ein: Die unaufgeregten Nachmittage, wenn die beiden einen Fisch ausnehmen oder einfach nur der Waschmaschine beim Schleudern zusehen, sind Lichtblicke und Ruhepunkte zwischen all den Schwierigkeiten im Leben des Jungen. Wenn er seinen Interessen nachgeht, funktioniert es plötzlich: Vor Begeisterung sprudelnd erzählt er abends der Mutter und dem Nachbarn sämtliche Details über die Lebensweise indigener Stämme in Südamerika. Oder widmet sich seiner liebsten Tätigkeit, dem Zeichnen.

Fey verzichtet darauf, seinen jugendlichen Protagonisten zu pathologisieren. Er zeigt Felix stattdessen als "neurodivers", als jemanden, dessen neurobiologische Disposition als natürlicher menschlicher Unterschied eingeordnet wird. Dramaturgisch konsequent und in intensiven Szenen erzählt der Film dann davon, wie die Situation zu Hause schließlich eskaliert. Eine logische Folge aus dem Verhalten der Mutter, die für Felix die ganze Zeit über als Torwächterin zu seiner Umgebung und als Übersetzerin seiner Wahrnehmung fungierte?

Vielleicht passiert auch einfach das, was bei jedem pubertierenden Teenager passiert: Es kommt zu einer schmerzhaften Ablösung. "Zwischen uns" führt mit reduzierten, aber wirkungsvollen Mitteln vor Augen, wie die Wunschvorstellung vom harmonischen Zusammenleben platzt, wenn man das einzelne Individuum nicht in seiner ganzen Komplexität sieht. Erst am Schluss kommt die Schulpsychologin, verkörpert von Corinna Harfouch, einmal auf die Idee, Felix selbst zu fragen, was er denn will. Seine Antwort beweist, dass er sehr wohl Empathie besitzt.

Zwischen uns - D 2022, Regie: Max Fey. Buch: M. Frey, Michael Gutmann. Mit: Liv Lisa Fries, Jona Eisenblätter, Thure Lindhardt, Corinna Harfouch. Wild Bunch, 86 Min., Kinostart: 16. Juni 2022

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