Zwischen "Null Bock" und " Generation Praktikum":Verwende Deine Jugend

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Bitte erscheinen Sie pünktlich und halten den Mund! Was es heißt, im Jahre 2008 jung zu sein.

Jens-Christian Rabe

Es ist ziemlich genau zwei Jahre her, da zeigte die Frankfurter Kunsthalle Schirn eine Ausstellung mit dem Titel "Die Jugend von heute". Die Idee zu der Ausstellung, sagte der damals 36-jährige Kurator Matthias Ulrich, habe er gehabt, weil er einer Generation angehöre, die die Jugendphase unendlich ausgedehnt habe. Konsequenterweise war dann auch nur ein Künstler unter 25 vertreten, dafür aber drei über 50.

Zeit totschlagen als Hauptbeschäftigung: Thora Birch spielt im Kinofilm "Ghost World" (2001) einen rebellischen, desillusionierten Teenager. (Foto: Foto: dpa)

Gegenstand der insgesamt 160 Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Gemälde, Skulpturen und Videos waren junge Menschen dann dafür umso häufiger. Der Halbwuchs, muss man sagen, hing gut rum, ab oder sonstwie in den Seilen in dieser Ausstellung. Und natürlich fehlten auch die seit Jahrzehnten bekannten Motive der irgendwie rebellischen Jugendkultur nicht: Che-Guevara-Modelle, ausgestreckte Mittelfinger, Skateboards, Punk-Parolen.

Soweit war also alles wie gehabt: Die Jugend ist halt jung - und alle, die es längst nicht mehr sind, aber sehr gerne noch wären, sie machen sich ihr Bild davon. Ein ziemlich verzerrtes.

Der Mythos Jugend, an dem später hartnäckig die besten Erinnerungen hängen, entsteht erst weit nach der für alle Betroffenen leider doch eher glanzlosen Pubertät. Wer mitten im Umbau zum Erwachsenen steckt, für den ist die Jugend nämlich vor allem eins: ein Zustand, den es so schnell wie möglich zu beenden gilt. Jugendliche Protestbewegungen, so viel Raum ihre Aufarbeitung im Nachhinein auch einnehmen mag, waren immer Minderheitenbewegungen.

Emnid-Studien aus den fünfziger Jahren legen nahe, dass fünf bis zehn Prozent der Jugendlichen zu den heute sagenumwobenen "Rockern" gehörten, als Punks bezeichneten sich 1984 gerade einmal ein Prozent. Und 2006, als die Turbulenzen in Berlin-Neukölln die Nachrichten beherrschten, schleppten sich im Rest der Stadt die Dinge so friedlich wie immer dahin. Abgesehen davon, dass die deutschen Charts 1968 nicht von den Rolling Stones dominiert wurden, sondern von dem piepsenden Kinderstar Heintje und dessen Chartbustern "Mama", "Du sollst nicht weinen" und "Heidschi Bumbeidschi".

Wer also inzwischen 30, 40 oder bald 50 ist und immer noch nicht genau weiß, ob er schon alt ist oder sich noch jung fühlt (oder beides), dem seien diese luxuriösen Zweifel natürlich erlaubt. Er übersieht aber vielleicht auch, dass sein Gefühl am Ende viel eher eine neue Form des Altwerdens ist als eine bisher unbekannte Form des Jungseins. Sich jung zu fühlen und jung sein zu müssen, sind zwei sehr verschiedene Dinge. "Verschwende Deine Jugend", die alte Parole aus der Ratinger Straße der Düsseldorfer Punk-Band DAF - das war gestern. Das Motto heute lautet: Verwende Deine Jugend.

"Hände weg von unserer Kindheit!"

Der Umbau der Schulen von Bildungs- zu Ausbildungsstätten etwa ist, angetrieben von Eltern und Wirtschaft, in vollem Gange. Die Politik ist eingeknickt angesichts hoher Arbeitslosigkeit und Globalisierung. Damit keine Zeit verschwendet wird in den besten Jahren. Damit nichts gelehrt wird, das nicht unmittelbar der baldigen professionellen Verwendbarkeit in die Hände spielt. Der Anteil der Schüler, die Nachhilfeunterricht nehmen, steigt entsprechend unaufhaltsam. Waren es 2002 noch 18 Prozent aller Schüler, sind es im vergangenen Jahr schon 23 Prozent gewesen. 50 Prozent aller Schüler haben inzwischen in ihrer Schullaufbahn schon einmal Nachhilfe absolviert.

"Hände weg von unserer Kindheit!" titelte zuletzt die Frankfurter Allgemeine Zeitung sehr zu Recht - aber angesichts all derer, die bereits die Hand auf Kindheit und Jugend haben, wirkt das fast etwas naiv. Genau genommen bedeutet jung zu sein heute, umstellt zu sein von Möglichkeiten, die natürlich nicht als die Optionen verkauft werden, die sie einmal waren, sondern als die schier unfassbaren Chancen, die sie mit Blick auf die Zukunft sein können.

Der Praktika-Wahn war der Anfang. Im vergangenen Jahr schlug das Unternehmen Continental Alarm, weil eine bei TNS Infratest in Auftrag gegebene Studie ergeben hatte, dass nur noch knapp siebzig Prozent aller Studenten Praktika vorweisen können. Im Jahr zuvor seien es noch achtzig Prozent gewesen.

Prinzip der totalen Selbstaufgabe

Das Mitmach-Web 2.0 ist der vorerst letzte Clou. Es bietet die ultimative Chance, mit einem Video auf YouTube aus dem Nichts so berühmt zu werden wie die 14-jährige deutsche Sängerin Mina, deren Musikvideo "How Angels Fly" plötzlich ein paar Millionen Mal angesehen wurde, oder mit einer Idee wie dem sozialen Internet-Netzwerk Facebook mal eben zum jüngsten Milliardär der Welt zu werden, wie der 23-jährige Student Mark Zuckerberg.

In Deutschland haben sich zuletzt besonders zwei Figuren als hohe Priester der perfiden Chancen-Ethik der gnadenlosen Selbstverbesserung profiliert. Bruce Darnell, bekannt geworden als Model-Trainer und Jury-Mitglied der ersten Staffel der Fernsehshow "Gemany's Next Topmodel" und Detlef Soost, Tanztrainer, Choreograph und seit Jahren Jurymitglied der Show "Popstars", die ähnlich wie das Pendant auf RTL "Deutschland sucht den Superstar" zum Ziel hat, massentaugliche "Acts" zu formen aus einem scheint's unerschöpflichen Reservoir an bis zur totalen Selbstaufgabe zu allem bereiten Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

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Im Fall von "Deutschland sucht den Superstar" überpöbelt zwar der Hass-Humor des Jurors Dieter Bohlen ("Die Vollschwuchtel singt wie ein Schwein") ideologische Untiefen. Doch der Erfolg bleibt letztlich irgendwie vor allem Geschmackssache. Also: Sache des Geschmacks des deutschen Plastikpop-Königs Bohlen. In den kurzen Zwischenbefragungen und Vorstellungsfilmchen der Kandidaten wird vor allem noch - ganz, ganz altmodisch - mit Träumen und Sehnsüchten der meist sehr jungen Menschen gedealt.

Bruce Darnell (mit Barbara Meier) steht für bestmögliche Verwendung des gegebenen Menschenmaterials: "Wenn eine Kunde disch bucht für eine Laufsteg-Show, is es deine Aufgabe, zu machen, was die Kunde haben will - und die Mund zu halten." (Foto: Foto: dpa)

Darnell und Soost fordern zur bestmöglichen Verwendung des je eigenen Menschenmaterials unverstellter auf. Die Wucht der kalten Botschaft Darnells geht dabei noch etwas unter in dessen recht niedlichem amerikanisch-deutschen Kauderwelsch: "Wenn eine Kunde disch bucht für eine Fotoshoot und auf eine Laufsteg-Show, is es deine Aufgabe, zu auftauchen, zu machen, was die Kunde haben will - und die Mund zu halten."

Soost hat es als gebürtiger Deutscher rhetorisch leichter. Umso unmissverständlicher zeigt sich der Hüne aus Ostberlin als knallharter Chefideologe des modernen Willensfetischismus. Wer ihm nicht glaubhaft versichern kann, er habe auf die Chance, die sich ihm nun mit der Sendung biete, sein ganzes kurzes Teenager-Leben lang gewartet, wer nicht "Gas gibt", sich nicht hundertprozentig konzentriert - kurzum: Wem nicht klar ist, was gebraucht wird, nämlich "Leute", die an sich arbeiten, die bereit sind, mit "ihrem Selbstbewusstsein nach vorne zu gehen", wer all das nicht hat, kann, will oder einfach macht, der fällt vor laufenden Kameras nicht nur in Soosts Ungnade, sondern - viel schlimmer - der erreicht nicht jenes härter erkämpfte Bessertum, als dessen Agent sich der 38-Jährige für seine Probanden nicht nur beängstigend glaub-, sondern auch schaurig kumpelhaft zu verkaufen versteht.

An ihm liegt es nicht, signalisiert die Körpersprache des Drill-Inspektors bei jedem Statement, er ist nur hier um zu helfen. Der Effekt ist brutaler, als es ein bloßer Rauswurf je sein könnte: Der Fehlende darf nicht einmal mit dem Wissen nach Hause gehen, er habe hier etwas geleistet.

Noch zu Hause und verdientermaßen soll den Verlierer die Wut darüber quälen, scheinbar doch nicht wirklich alles versucht, und sich stattdessen schwach dem eigenen Schweinehund ergeben zu haben: die Kardinalsünde im Zeitalter der Casting-Shows.

Fratze des Prinzips

Dass Darnells ARD-Show "Bruce" floppte und schon nach 20 Folgen im März abgesetzt wurde, muss nicht zwangsläufig den Grund gehabt haben, dass er darin Normalos coachte und keine Modelschülerinnen. Es könnte auch damit zu tun haben, dass sich die Fratze des Prinzips zu offen zeigte. Dessen unterschwellige Teleologie ist nämlich alles andere als ein Versprechen auf Individualität, wie es ganz unschuldig auch der Titel seines im Februar erschienenen Stil-Ratgebers "Drama, Baby, Drama! Wie Sie werden, was Sie sind" nahelegt. Richtig müsste es heißen: "Wie Sie werden, was Sie sein sollten, um nicht weiter ein so arg beschissenes Dasein zu fristen, wie Sie es derzeit noch tun."

Verwende Deine Jugend - am anderen Ende der vermeintlichen Glaubwürdigkeit, im immer wieder verblüffend erfolgreichen deutschen "Gangster-Rap", dessen Protagonisten fast ausschließlich aus dem rüden Berlin kommen oder halt von Berliner Plattenlabels produziert werden, ist die pubertäre Provokation um jeden Preis lukratives Geschäftsprinzip. Die Archetypen des erfolgreichsten Labels "Aggro Berlin" etwa sind denkbar streng auf die Distinktionsbedürfnisse des Pausenhofs komponiert.

Die Fäden zieht Label-Mitgründer Eric Remberg. Der Rapper Fler etwa ist der tapfere Teutone, Sido der Mann mit der gefährlichen silbernen Totenmaske, der farbige B-Tight der omnipotente Superschwarze und der Zwei-Meter-Mann Tony D ein rappender Frankenstein. Vollkommen logisch erschien da, dass sofort ein PR-Gag gewittert wurde, als Anfang des Jahres der Rapper Massiv, dessen zweites Album wenig später erscheinen sollte, in Berlin auf offener Straße angeschossen wurde.

Weltstar-Status? Egal.

Der Druck hochgehalten wird schrägerweise auch in verschiedenen aktuellen Büchern, die einen neuen Feminismus propagieren. In dem Buch "Die Alphamädchen" etwa wird sich um eine Rehabilitation der Pornographie bemüht, ohne deren sexuellen Leistungsimperativ zu reflektieren: "Knallersex für alle". Und im Superbestseller des Frühjahrs, in dem Roman "Feuchtgebiete" der Moderatorin Charlotte Roche, schwärmt die Hauptfigur schon auf der ersten Seite von Höhepunkten durch rein gar nichts als anale Penetration.

Jüngsten Jugend-Studien zufolge gilt die Hauptsorge der Jugendlichen heute der Chance auf einen sicheren Arbeitsplatz. Die Null-Bock-Generation sei Vergangenheit. Werte wie Disziplin und Pflichtbewusstsein hätten wieder große Bedeutung. "Die Mehrzahl der Jugend", so der deutsche Jugendforscher Klaus Hurrelmann, "will in die Gesellschaft integriert sein, will etwas erreichen." Laut der im vergangenen Jahr erschienenen Repräsentativbefragung "Demographischer Wandel" glaubt die Mehrheit der unter 25-jährigen Deutschen, dass die Anforderungen in der Arbeitswelt in Zukunft steigen werden. Permanente berufliche Weiterbildung und häufiger Wohnort- und Arbeitgeberwechsel würden nicht nur befürchtet, sondern erwartet.

Genau das also ist das eigentlich Irritierende am Fall der derzeit so erfolgreichen wie von harten Drogen unübersehbar schwer gezeichneten britischen Soulsängerin Amy Winehouse: Sie hat, kaum 24 Jahre alt, etwas aus sich gemacht, sie hat ein paar Millionen Platten verkauft und mehrere Grammys gewonnen. Sie ist ein Weltstar, und, was ja nicht selbstverständlich sein muss: gleichzeitig ein Riesentalent. Trotzdem ist ihr das mit dem Weltstar zweifellos: vollkommen egal.

Müde Rebellion

Eine größtmöglichere und nötigere Provokation kann man sich in diesen Zeiten eigentlich nicht denken. Außer vielleicht: den Erwachsenen, der seinen Vorrat an idealisierten Jugend-Erinnerungen nicht aufgeben, der lieber immer wieder neu aufgeklärt werden will, als endlich abgeklärt zu sein, der, sagen wir, weiß, dass es nicht der absolute Gipfel der Rebellion gegenüber dem Starrsinn ist, in einer Wohnung Skateboard zu fahren, wie es ein Video in der Schirn zeigte - der aber eben auch der Meinung ist, dass das schon mal ein guter Anfang wäre.

Sollte sein Kind dann aber ins mittlerweile nur noch achtstufige Gymnasium kommen, sollte sein Kind plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen und Sachen sagen, die Kinder im Alter von elf Jahren früher nicht gesagt haben, der wird auch mit seinem Skateboard von früher nicht mehr weiterkommen. Er wird sehen, dass wir in einer Welt leben, in der Jungsein nicht mehr das ist, was es noch vor zehn oder gar zwanzig Jahren war. Nicht einmal ansatzweise.

© SZaW vom 26./27.04.2008/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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