Zweiter Tag bei der Berlinale 2012:Verdonnert zum Tiefgang

Erst Pomp, dann Welterklärung: Die Filme am zweiten Berlinale-Tag sollen partout jene tiefgründige Bedeutung liefern, den das Großfestivals neben dem Promi-Blitzlichtgewitter bieten will. Doch die Verfilmung von Jonathan Safran Foers "Extrem laut und unglaublich nah" sowie Beiträge aus Frankreich und dem Senegal suggerieren Antworten, noch bevor sie Fragen stellen können.

Fritz Göttler

"Komm nicht näher, rühr mich nicht an . . ." Die Frau ist abweisend und streng, sie weicht dem Blick des Mannes aus, macht stumm und ungerührt ihre Hausarbeit. Der Mann schickt sich drein, er wird geduldig warten. Die Kommunikation ist gestört, aber man ist doch bereit, die beiden und den Jungen der Frau für eine Familie zu halten.

62. Berlinale: 'Aujourd'hui'

Die senegalesische Produktion "Aujourd'hui" ist eine Reflexion über Leben und Tod, die Zeit und die Ewigkeit.

(Foto: dapd)

Die Fehlleistungen häufen sich und sprechen eine deutliche Sprache. Das Kleid will einfach nicht auf der Leine bleiben, als die Frau die Wäsche aufhängt, und der Stuhl, den sie vor dem Haus zurechtrückt, will seinen richtigen Platz nicht finden. Es liegt ein seltsamer Frieden über der Szene, der Wind rauscht, man hört Vögel und Hunde, das Wasser einer Dusche, und da ist das intensive Rot eines Feuers zwischen schwarzen Grillkohlen. Eine kleine filmische Meditation, am Ende von "Aujourd'hui", dem dritten Film von Alain Gomis - eine Produktion aus Senegal, eine Reflexion über Leben und Tod, die Zeit und die Ewigkeit.

Bis der Film solche Gelassenheit und Präsenz erreicht, ist schon mehr als eine Stunde vergangen. Satché, der junge Mann, wurde anfangs als ein Todeskandidat eingeführt. Familie und Freunde haben sich um ihn versammelt und alle wissen, aus welchem mysteriösen Grund auch immer, dass dies sein letzter Tag sein wird. Sie sind von freundlichem Glück erfüllt, dass er seinen Tod zu akzeptieren bereit ist.

Satché wird vom Sänger Saül Williams gespielt, er sieht aus wie der junge Denzel Washington. Er macht sich auf den Weg, begleitet von einem alten Freund, seinem treuen Heurtebise gewissermaßen, um die geheimnisvolle Zone seines letzten Tages zu durchqueren. Es gibt eine bizarre Episode in einer Kunstgalerie, einen Straßenaufstand, einen Hinterhof-Besuch beim Onkel Leichenwäscher. Manchmal kommt man in ein Ruinenfeld - bis man merkt, hier ist sich alles erst noch im Aufbau.

Die Filme kämpfen gegen den Welterklärungsanspruch, zu dem der Wettbewerb eines Großfestivals sie verdonnert. Sie sollen partout Bedeutungen liefern und Tiefgründiges, sie sehen sich unter Druck gesetzt, Antworten zu geben - und würden doch lieber erst einmal Fragen formulieren. Es ist dieses Prinzip, das den Festivalbetrieb irgendwann ad absurdum führen wird - und Klaus Lemke hat auch diesmal wieder seinen Beitrag dazu geliefert mit seinen wütenden Protesten gegen die Ödnis der Berlinale.

Kommunikativer Störfall Amerikas

Gestörte Kommunikation auch im Wettbewerbsbeitrag "À moi seule", dem dritten Film von Frédéric Videau. Ein Junge hält ein Mädchen gefangen in einem Kellerloch, ohne starke Zeichen von Dominanz oder Terror. Er lässt sie zum Essen raus, ist von ungelenker Besorgtheit und Zärtlichkeit. Eine französische Kampusch-Variante, sehr unspektakulär und manchmal unbeholfen erzählt. Der Film leistet Basisarbeit, er muss erst mal den Bogen schließen von der spektakulären Eröffnung - Versailles, Marie-Antoinette! - zum Festivalalltag, den Blick auf die einzelnen Momente lenken.

Berlinale 2012 - 'Extremely loud and incredibly close'

Regisseur Stephen Daldry inszeniert "Extrem laut und unglaublich nah" wuchtig und drastisch, Traumatisierung ist ihm eine Frage der Lautstärke und der Beschleunigung.

(Foto: dpa)

Die Rollen werden seltsam modifiziert, das Mädchen zwingt den Jungen, nachts Ausflüge mit ihr zu unternehmen. Ob er mit ihr schlafen will, kokettiert sie, was ihn verschreckt. Die absolute Liebe, elementare Angst vor dem Alleinsein, kämpferische Keuschheit - da hat das Mädchen etwas von der entschlossenen Schönheit der Frauen bei Bresson, Mouchette oder Anne Wiazemskys Marie in "Zum Beispiel Balthasar".

Dann der größte kommunikative Störfall Amerikas der letzten Jahre, der Terror des 11. September 2001. Der Junge Oskar an diesem Tag seinen Vater verloren, der in einem der Twin Towers war. Sechsmal hatte der noch angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen, aber eine direkte Kommunikation kam nicht mehr zustande. Ein Trauma für den Jungen, er behält die letzten Worte des Toten für sich. Tom Hanks ist dieser erinnerungsdominante Vater in der Verfilmung von Jonathan Safran Foers Roman "Extremely Loud and Incredibly Close / Extrem laut und unglaublich nah" (außer Konkurrenz). Tom Horn ist der Junge, bei dem man kurz auch mal an den kleinen Blechtrommler denkt - aber dieser Oskar benutzt ein Tamburin, um sich Mut zu machen in der großen Stadt New York.

Regisseur Stephen Daldry inszeniert wuchtig und drastisch, Traumatisierung ist ihm vor allem Dramatisierung, eine Frage der Lautstärke und der Beschleunigung. Der alte Max von Sydow spielt die Gegenfigur, einen Lebens-Künstler, ganz in Schwarz, der nicht mehr spricht, sich nur in Sätzen artikuliert, die er in seinen kleinen schwarzen Block schreibt, in Zwischentiteln. Wie Scorseses Hugo hat Oskar vom Vater einen Schlüssel überliefert bekommen, der ihn zu einer merkwürdigen Suche motiviert.

"Man kann eine Karte benutzen", sagt Jonathan Safran Foer, "und zu einem Bestimmungsort fahren. Man kann den interessantesten, schönsten Straßen folgen, wobei man sich selbst vertraut, dem Wagen, und der Logik des Straßenpflasters - und dort enden, wo man es sich nicht vorstellen hätte können, bevor man nicht dort ist." Ein wenig mehr hätte auch Stephen Daldry diesem Satz vertrauen können.

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