Süddeutsche Zeitung

Zweimal "Hamlet":Wahnsinn mit Methode

Shakespeares "Hamlet" zeigt: Das Private ist politisch. Am Thalia-Theater Hamburg spielt Mirco Kreibich den zaudernden jungen Mann, am Berliner Gorki-Theater Svenja Liesau.

Von Peter Laudenbach

Hamlet ist auch nicht mehr der, der er einmal war. Dass er am Berliner Maxim-Gorki-Theater in Christian Weises Inszenierung zu einer Frau wird, ist noch das geringste Problem. Der Geschlechtertausch, die Verwandlung des jungen Shakespeare-Helden in ein geschlechtsambivalentes Zwitterwesen hat eine ehrwürdige Theatertradition, von Sarah Bernhardt (1899 in Paris und London und 1900 in dem Stummfilm "Le Duel d'Hamlet") über Angela Winkler (1999 am Wiener Burgtheater, Regie: Peter Zadek) bis jüngst zur gefeierten Sandra Hüller am Schauspielhaus Bochum in Johan Simons' Inszenierung.

Am Gorki-Theater spielt das Kraftpaket Svenja Liesau Hamlet sehr fern von androgyner Zweideutigkeit und introvertiertem Zaudern als eine trinkfeste Ick-sach-mal-Berlinerin der herberen Sorte, eine explosive Granate mit Dreadlocks-Perücke, die sich ohne unnötige Subtilitäten in den Kampf mit der Figur, dem Regiekonzept und dem Publikum wirft: "Zu ihrer Beruhigung, det war jetzt der absolute Tiefpunkt des Abends!" Als Berlinerin ist sie Kummer gewohnt, weshalb von Hamlets melancholischer Verschattung nicht mehr als lokaltypische Motzfreude und das Theatervergnügen an großen Gesten übrig bleibt.

Einem ganz anderen Hamlet begegnet man in Jette Steckels Inszenierung am Hamburger Thalia Theater. Eigentlich sind es bei Mirco Kreibich gleich mehrere Hamlets aus den unterschiedlichsten Theaterregionen. Wie im Schlingensief-Aktionskunst-Theater der 1990er-Jahre beschmiert er sich und die Clowns Rosenkranz und Güldenstern mit Rasierschaum und Federn. Wie im Testosterontheater der Gegenwart marschiert er mit Pistole und entblößter Brust über die Bühne. Wie im nekrophilen Totenkult-Theater Heiner Müllers um 1990 kriecht er im fahlen Licht als Zombie aus dem Grab, die berühmteste Leiche der Theatergeschichte, die keine Ruhe findet. Wie im Psycho-Exzess-Theater der 1970er-Jahre brüllt er in Endlosschleife den Hit "To be or not to be", bis dieser verbale Amoklauf zu pumpendem Elektrosound in einen Veitstanz übergeht.

In der Hamburger Inszenierung von Jette Steckel probiert Hamlet alle möglichen Theaterstile durch

Wie als Klassikerzitat gibt er auch den Hamlet im Gründgens-Stil um 1940, mit bleichem Gesicht und Standbein-Spielbein-Deklamation. Wie im psychoanalytisch inspirierten Theater George Taboris um 1980 kriecht Hamlet seiner Mutter (gespielt von der großen Barbara Nüsse) unter den weiten Rock. Schließlich ist sein ödipales Problem, dass Claudius, der Mörder seines Vaters und Beischläfer seiner Mutter, genau das getan hat, wovon laut Freud alle kleinen Jungen träumen. Vielleicht kann Hamlet deshalb den Rachemord nicht vollführen: Er wäre selbst gerne Claudius. Und wie im Straßen- und Bildertheater der 1970er-Jahre spaziert er mit einer schwarzen Kugel über dem Kopf durch das Foyer. So sieht man gleich, dass es ihm nicht so gut geht. Die schwarze Kugel wird später noch einmal auftauchen. Als schwarze Sonne der Depression hängt ein riesiger Gummiball symbolschwer über der Spielfläche und drückt dem armen Hamlet aufs Gemüt (Bühne: Florian Lösche).

Die unlösbare Aufgabe, sich dem berühmtesten Theaterstück Europas und ein paar hundert Jahren Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte zu stellen, beantwortet die Effektvirtuosin Steckel, indem sie eine Enzyklopädie der Theaterstile durchspielt. Das hat den Reiz einer sehr gelungenen, über die dreieinhalb Stunden der Aufführung fraglos unterhaltsamen Show. Aber wie die Berliner Inszenierung verzichtet auch Steckel in Hamburg auf größeres Interesse an Hamlets Seelenleben, seinen unauflösbaren Widersprüchen und Handlungsblockaden. Was nach tradierter Lesart das große Rätsel und die Tiefendimension des Stücks ausmacht, ist hier flott wegrationalisiert. Für Feinheiten der Figurenpsychologie bleibt wenig Raum.

Dafür liegt ein wirkungsvoller, nicht allzu raffinierter Schwerpunkt auf dem Populismus-Politikstil des Machthabers Claudius (schön ölig: Bernd Grawert), eine Mischung aus Conférencier und Diktator. Für das reibungslose Funktionieren der Regierungs- und Intrigengeschäfte sorgt der Apparatschik Polonius, den Karin Neuhäuser mit der peniblen Zwanghaftigkeit des Hochleistungsbürokraten gibt. Dass sich Steckels Inszenierung zwecks des Ausflugs in etwas abgründigere Regionen über weite Strecken bei Heiner Müllers "Hamletmaschine" bedient, beweist guten Geschmack. Allerdings wäre es höflich gewesen, diese großzügigen Anleihen im Programmheft kenntlich zu machen (und die Rechteinhaber dafür zu bezahlen).

Am Berliner Gorki-Theater ist Hamlet die Tochter von Karl Marx - und kommt "eigentlich aus Magdeburg"

Deutlich lustiger, ungehobelter und ideologisch zugespitzt geht es naturgemäß in Berlin am Gorki-Theater zu, wo man sich gerne am Old-School-Linksradikalismus wärmt. Erstaunlicherweise ist Hamlet hier nicht unbedingt ein Prinz, sondern die Tochter von Karl Marx. Sein Mörder Claudius (Aram Tafreshian) erweist sich als Karrierist und Funktionär, der mit Vollbart und nach hinten gespachtelten Haaren eine gewisse Ähnlichkeit mit August Bebel aufweist: Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten wie dieser Realpolitiker Claudius. Marx hat die Ehre, von Ruth Reinecke gespielt zu werden, womit die Sympathien klar verteilt sind. Falls das als ironischer Verweis auf historische Echoräume nicht genügen sollte, stapeln sich im Regal auch noch die Büsten von Brecht, Liebknecht und Rosa Luxemburg. Heiner Müller grüßt als Gemälde von der Wand.

Christian Weise und seine Bühnenbildnerin Julia Oschatz haben offenbar viele Aufführungen von Vegard Vinge und Ida Müller gesehen. Sie verwandeln das Stück über lange Strecken in einen Trickfilm mit gemalten Kulissen, meist enge Bürgerstuben. Schließlich kann es nicht oft genug gesagt werden: "Germany ist ein Gefängnis." Für noch mehr Gelegenheit zu Theater-im-Theater-Scherzen sorgt Horatio (Oscar Olivo), der hier ein New Yorker Filmregisseur ist, der beim Versuch, einen Berliner "Hamlet"-Film zu drehen, in der Krisen-Narzissmus-Hysterie landet.

Wenn sich die Spieler aus dem Filmset-Verlies befreien, gehen sie an der Rampe zur Frontalbespaßung des Publikums über, nicht ohne Gorki-üblich aus der Rolle zu treten und persönlich zu werden (Hamlet: "Eigentlich komme ich aus Magdeburg, ich mache das hier für Geld"). Was am schönsten und wehmütigsten bei Ruth Reinecke ist, die von alten Zeiten erzählt, als das Theater noch ganz ohne Video ausgekommen ist. Kleine Ohrfeigen für die aktuellen Regiekräfte sind im Gorki völlig okay. Auch mit diesem Hamlet-Comic erweist sich das Haus als das derzeit vitalste, anarchischste, spielfreudigste Theater Berlins, mindestens.

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Quelle:
SZ vom 04.02.2020
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