Süddeutsche Zeitung

Zwei Premieren:Worte, die davonhoppeln

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Theaterstart in Zürich: Christoph Marthaler inszeniert "Das Weinen (Das Wähnen)". Leonie Böhm formt eine Medea, die nahegeht.

Von Egbert Tholl

Im März hatte es Christoph Marthaler bis zur Generalprobe geschafft. Dann kam der Lockdown. Und die ganze Aufregung über eine neue Marthaler-Inszenierung am Schauspielhaus Zürich verpuffte im Stillstand. Jetzt kam "Das Weinen (Das Wähnen)" endlich im Pfauen, der Zürcher Hauptspielstätte, heraus, Untertitel "zweiter Versuch". Nun ist dieser Versuch keineswegs gescheitert, besitzt viele der typisch marthalerschen Ingredienzen in Reinkultur. Aber der Zauber, den viele seiner Arbeiten haben, will sich nicht so recht einstellen. Ist Marthaler richtig gut, führt er einen auf verschlungenen Pfaden, über poetische Textblumenwiesen und verschrobene Einfälle zu einem Ziel, bei dessen Erreichen man verblüfft darüber ist, wie einem, ohne dass man sich dagegen wehren könnte, politische und gesellschaftliche Dimensionen einholen. Von diesen Dimensionen gibt es hier nur eine Ahnung.

Vor vielen Jahren steckte Dieter Roth Marthaler einmal ein Bändchen seines literarischen Œuvres zu, es hieß "Das Weinen (Das Wähnen), Band 2a (Tränenmeer 4)" und Marthaler trug es seitdem mit sich herum. Roth wurde 1930 in Hannover mit dem Vornamen Karl-Dietrich geboren, 1943 von seinen Eltern in die vor den Nazis sichere Schweiz vorgeschickt. Er entdeckte Künste aller Arten für sich, nahm an Fluxus-Veranstaltungen teil, baute Eat-Art-Objekte, Vergängliches aus organischem Material, pendelte zwischen Island, den USA und der Schweiz, war zwei Mal bei der Documenta vertreten und machte die ganze Kunst doch nur, um schreiben zu können. Mit dem, was er zu Papier brachte, konnte er wahrlich kein Geld verdienen. Posthum erreichte er damit jedoch die größte Aufmerksamkeit: 2012, 14 Jahre nach seinem Tod, inszenierte Herbert Fritsch an der Berliner Volksbühne das 1974 entstandene Stück "Murmel Murmel". 176 Seiten Text mit einem Wort: "Murmel."

Über "Murmel Murmel" kann man sich nun auch am besten dem nähern, was die fünf Damen und der eine Herr hier auf der Pfauenbühne so absondern. Sie befinden sich in einer etwas altmodischen Apotheke, die ihnen Duri Bischoff gebaut hat, sie tragen weiße Kittel oder auch leicht eigenwillige Pepitakostüme, sie machen Inventur. Wörtlich, indem sie die Medikamentenschachteln begutachten, sie schließlich alle als offenbar nutzlos aus den Regalen räumen und auch mal einen Beipackzettel zutage fördern, auf dem zu lesen ist, dass eigentlich nur noch die Nebenwirkungen wirken und man diese allein bei der Wahl des Medikaments berücksichtigen sollte. Sprachlich, indem sie mit Wiederholungen, Verschleifungen, Umdrehungen allergrößte Skepsis am semantischen Nutzen von Sprache anmelden.

Ein Wasserspender fährt herum und freundet sich mit einer Körperwaage an

Roth hatte große Freude am Sprechen an sich und am Dadaismus. Dada passt nach Zürich, hier wurde es erfunden. Dada passt aber nur bedingt auf eine Bühne, es sei denn, man verabschiedet sich schnell von der Gier, etwas verstehen zu wollen. So fühlt man sich bald wie der hier erwähnte "Hoppelhasenjäger", nur dass einem nicht die Hasen, sondern die Worte davonhoppeln, bevor man sie einfangen kann.

Daneben gibt es aber doch diese wundervollen Marthaler-Momente. Ein Wasserspender fährt herum und freundet sich mit einer Körperwaage an, auf die eine der Damen gerne Magne Håvard Brekke wie eine Puppe stellt - zu recht viel mehr wird der kleine Mann hier nicht gebraucht. Nikola Weisse legt ein paar Schallplatten auf und steht dann wie ein Herold neben dem Plattenspieler, lauscht der Musik von "Schwanensee", welcher ja aus Tränen besteht. Mal singt sie auch, "Crying in the Rain", aber tränenreich ist hier nichts, weil der Titel des Abends selbst keinen semantischen Gehalt mehr hat. Vielmehr erzeugt der "Druck auf die Sprechblase" die allergrößte Freiheit in der Nutzlosigkeit des gesprochenen Worts.

Aber gesungen wird zauberhaft, von allen, angeführt von der leuchtenden Elisa Plüss, die mit emsiger Präzision ans Werk geht, dabei wie Nicole Kidman in Kubricks "Eyes Wide Shut" aussieht und die "Figaro"-Arie "Se vuol ballare" akkurat in perlende Silben zerlegt. Auch dies schafft keine Erlösung von der Sinnlosigkeit allen Tuns, doch Herr Brekke versucht diese und schleppt als Jesus am Ende ein grün blinkendes Apothekenschild herbei. Unter diesem bricht er zusammen. Übrig bleibt nur, zart gesungen, Mozarts "Lacrimosa".

Im Pfauen ist jeder zweite Platz gesperrt, im Schiffbau jeder zweite Sitz ausgebaut, die Zuschauer tragen Maske auch während der Aufführung. Das findet Maja Beckmann schade, weil man so die Emotionen der Besucher nicht lesen könne, wie sie im Eingangsflirt mit dem Publikum sagt. Man müsse das Lachen nun schon in den ganzen Körper legen, wobei man sich fragt, was es hier zu lachen geben soll, denn Beckmann ist Medea.

Duftende Wahrheit eines großen Gefühls: Maja Beckmann spielt ihre Medea mit Mädchencharme

Leonie Böhm hat ihr im wunderschönen Bühnenbild von Zahava Rodrigo, einer weißen Zelthöhle ohne Ausgang, ein bewundernswertes Solo eingerichtet. Böhm hat ein Gespür dafür, große Stoffe unmittelbar erfahrbar zu machen, hat etwa an den Münchner Kammerspielen vor knapp einem Jahr aus Schillers "Räubern" die ungeheuer klugen, feministisch überlegenen "Räuberinnen" gemacht. Nun bedient sie sich bei Euripides und formt zusammen mit Maja Beckmann eine Medea, deren Liebe und Not, deren Verzweiflung und Einsamkeit einem nahegehen, so nah wie vielleicht die feministischen, in Beziehungsfragen außerordentlich erhellenden Comics von Liv Strömquist.

Über den Kindsmord braucht man hier gar nicht reden, dass der passiert, weiß man ja. Aber warum passiert er? Beckmann hat einen Partner auf der Bühne, den empathischen Musiker Johannes Rieder, der Medea sehr gut versteht, der auch mal Jasons Liebesschwüre singt, ohne dass man die noch glaubt. Mit Mädchencharme spielt Beckmann das Verlieben, da ist Rieder überwältigt. Jason findet Medeas Knie so schön, also geht sie so, dass er sie gut sehen kann. Das alles hat die duftende Wahrheit eines großen Gefühls, die Verheißung eines Glücks, auch wenn Beckmann eine ironisierende, wissende Ebene mitspielt.

Diese wird ein kleines Problem bei der Vernichtungssuada, die Medea im Dialog mit einem mythisch-riesigen Stier entwickelt, in den sie auch hineinkriechen kann. Auch wenn dieser Moment leicht verrutscht: Wie Beckmann zuvor den Schmerz der Medea zeigt, die an die Liebe glaubte wie an ein Gesetz, die alles für Jason aufgegeben hat, worauf der eine andere heiratet, wie sie völlig allein in dieser Welt ist, das ist groß. Und weil diese Welt für Medea nicht mehr taugt, fällt das Zelt in sich zusammen, und Maja Beckmann beschreitet auf der weißen Wüste einer neuen Welt Medeas selbstbestimmten Weg.

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Quelle:
SZ vom 25.09.2020
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