Zur Nachhaltigkeit:Wir sind die letzten

Totale Mobilmachung, von der Hausfrau bis zum Unternehmensberater: Warum die Nachhaltigkeit, das neue Ideal unserer Zeit, fast schon lebensgefährlich ist.

Wolfram Eilenberger

Anders als in den Zentralen der westlicher Demokratien erhofft, haben die Kernbegriffe der europäischen Neuzeit - Menschenrecht und freie Marktwirtschaft - zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ihre universalisierende Leitfunktion eingebüßt.

Im Zuge einer Verschiebung der Macht von Westen nach Osten zeichnete sich vielmehr politisch wie ethisch eine Welt mit mehreren Polen, aber ohne Leitvision ab - und damit die schlechteste aller Entwicklungen. Der fortschreitende Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen stand und steht beispielhaft für dieses Dilemma.

Gesucht wurde eine neue Idee, um die sich neue, notwendig gewordene Formen der global governance würden organisieren können, ein kleinster gemeinsamer Wert der Globalisierung - kraftvoll genug, die Ängste und Hoffnungen unserer Zeit überzeugend zu bündeln. So kam es, dass eine Formel, die gut dreihundert Jahre in forstwirtschaftlichen Spezialwörterbüchern gedämmert hatte, zum praktischen Ideal des 21. Jahrhunderts aufstieg: Nachhaltigkeit (sustainability).

Ein Begriff, dessen normativen Druck Diktatoren von Ölstaaten ebenso entschieden bejahen können wie vom Untergang bedrohte Inselregenten, rohstoffreiche Ärmstnationen wie demographisch explodierende Milliardendemokratien. Die Erregung über das Scheitern des Kopenhagener Gipfels erklärt sich vor allem daraus, dass jede Partei vorgab, die Einsicht in die Notwendigkeit nachhaltiger Entwicklung zumindest zu teilen.

Ein Wort, das es so weit bringt, muss unmittelbar einleuchtend, denkbar umfassend und in der konkreten Anwendung äußerst flexibel sein. Trivialität schadet ihm überhaupt nicht. Tatsächlich erweist sich die dazugehörende Einsicht als denkbar einfach. Dass es für ein System, welches überdauern will, nicht ratsam ist, sich die stofflichen Grundlagen der eigenen Existenz zu entziehen, kann geradezu als Voraussetzung des Lebens bezeichnet werden. Nachhaltiges Denken ziemt sich bei der Büffeljagd wie beim Autodesign, erfüllt die Existenz des klugen Reisbauern in gleicher Weise wie die seines Feudalherren, leitet Hausfrauen wie Unternehmensberater.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die Idee der Nachhaltigkeit den Bereich des Zwischenmenschlichen sprengt.

Es geht um alles

So lässt die einleuchtende Erdnähe des Begriffs leicht vergessen, welche nur noch kosmisch zu nennenden Entgrenzungen und Zumutungen für den einzelnen Menschen tatsächlich mit dem Postulat der Nachhaltigkeit verbunden sind. Zunächst überspannt der Begriff mit Leichtigkeit alle Bereiche des Lebens und bindet sie zu einem Verantwortungsbereich - besonders prominent im Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit: Natur + Gesellschaft + Wirtschaft.

Vor allem aber sprengt die Idee der Nachhaltigkeit den traditionellen ethischen Bereich des Zwischenmenschlichen und öffnet den Verantwortungsbereich auf die gesamte Biosphäre hin. Selbst Prozesse, die wir dem gestaltenden Wirken des Menschen entzogen wähnten, insbesondere das Klima, liegen nun in unserer Verantwortung und verlangen bis in die dünnsten atmosphärischen Schichten nach nachhaltiger Steuerung. Einen solch umfassenden Topos hat es im Westen seit den Kosmologien des Mittelalters nicht mehr gegeben.

Die eigentliche Entgrenzung aber vollzieht sich im Zeitlichen, da in sämtlichen Definitionen von Nachhaltigkeit die Interessen, Bedürfnisse und Wünsche zukünftiger Generationen explizit einbezogen werden. Die ethische Forderung nach der Einbeziehung des Anderen greift damit weit über traditionelle Grenzen von Familie, Sippe, Gemeinschaft, Nation oder gar die real existierende Menschheit hinaus und schafft eine Verantwortung, die mindestens an Hunderten Jahren zu messen wäre.

Gläubiger Gehorsam

Was nachhaltiges Handeln bedeutet, können aber im konkreten Einzelfall, wenn überhaupt, nur Spezialisten entscheiden. Einerseits wird so das zeittypische Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Grundlage des eigenen Handelns befriedigt (die Ethik, keine so leichte Sache, erscheint als gleichsam empirisch fundiert), anderseits wird eine kritische Dynamik von Verantwortungszuwachs und personaler Entmündigung in Gang gesetzt. Im Zeichen der Nachhaltigkeit wird richtiges Handeln zu einer Frage des wissenschaftlichen Berechnens und der Autorität. Aus verständigem Nachvollzug wird gläubiger Gehorsam - von autonomer Selbstbestimmung keine Spur. Aufklärung ist das nicht.

Seinen letzten und entscheidenden Anstoß erhält der Wille zur Nachhaltigkeit aus der Gewissheit einer zunehmenden Verknappung, Verheerung und Verödung eben jener Ressourcen, die als notwendige Grundlage unserer derzeitigen Lebensform sowie weiter Teile von Fauna und Flora dienen (Öl, Wasser, Luft, Wärme). Der Wille zur Nachhaltigkeit nimmt daher in der öffentlichen Wahrnehmung die gleiche Bedeutung ein wie der Wille zum (Über-)Leben selbst und vermag so jeden Ideologie- und Relativitätsverdacht wirksam zu unterlaufen.

Zumindest aber versteht es der Nachhaltigkeitsbegriff, ohne politisch positionierbar zu sein, jenen progressiv-emanzipatorischen Schwung zu vermitteln, der bislang noch jede große menschliche Bewegung in Gang hielt und der insbesondere dem Projekt der Linken nach dem Fall der Mauer abhanden gekommen war. Im Erleben des Einzelnen bewirkt diese apokalyptische Dringlichkeit einen merklichen Intensitätszuwachs. Endlich geht es wieder wirklich um etwas. Um etwas? Nein: Um alles!

Die totale Anschlussfähigkeit des Nachhaltigkeitsbegriffs resultiert aus seiner Nähe zum Begriff des Systems. Da Systeme über den Differenzbegriff einer jeweils existenzbedingenden Umwelt bestimmt werden, ist jedes System Teil eines größeren Systems und verfügt über diverse Subsysteme. Und da es nach bestem Wissen und Gewissen kein irdisches System mehr gibt, das sich den Wirkungen menschlichen Handelns vollends entzogen wüsste, wird unser gesamtes Handeln der Nachhaltigkeit zugänglich. Der Kreis der Totalisierung schließt sich.

Der letzte Mensch

Nachhaltigkeitserwägungen dringen so bis in die kleinsten Ritzen unserer Existenz vor und führen - wie sich in alltäglichsten Vollzügen und Gesprächen beobachten lässt - zu einer vollständigen Einebnung der einst die Demokratie tragenden Differenz von Öffentlichem und Privatem. Dem Ideal der Nachhaltigkeit eignet damit das Potential, wenn nicht die manifeste Tendenz zur totalen Mobilmachung: Jeder kann an jedem Ort und zu jeder Zeit seinen Beitrag leisten!

Aber handelt es sich bei der Nachhaltigkeit wirklich um einen Gedanken, der eine grundlegende Richtungsänderung, gar eine Kehre in Aussicht stellt? Betrachten wir die für den Begriffskern bis heute politisch bestimmende Formulierung des Brundtland-Berichts von 1989, eines Berichts der UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Darin wird das Leitideal nachhaltiger Entwicklung so gefasst: "Entwicklung zukunftsfähig zu machen, heißt, dass die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generation zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können."

Unschwer ist zu erkennen, dass in dieser Bestimmung sowohl Menschenrechte wie freie Marktwirtschaft implizit ebenso enthalten sind wie eine Anthropologie des Menschen als rationalem Nutzenmaximierer (homo oeconomicus). Was bewahrt werden soll, ist ja die Fähigkeit individualisierender Bedürfnisbefriedigung - und zwar einer Bedürfnisbefriedigung, die qualitativ nicht hinter das bestehende Niveau zurückfällt.

Das ist nun mitnichten eine Abkehr vom jetzigen Weltverhältnis, sondern seine Fortschreibung bis in alle Ewigkeit. Was klug geschützt werden soll, sind die zur Perpetuierung notwendigen Ressourcen. Und zwar explizit in ihrer Eigenschaft als Ressourcen, das heißt, als Mittel zum Zweck. Der Gedanke, Systeme der Natur seien etwas anderes als Mittel zum Zwecke unserer Bedürfnisbefriedigung, bleibt dem Nachhaltigkeitsparadigma verschlossen. Und das soll dann ein neues Denken sein?

Erstaunliche Karriere

Insofern der Schwung der Rede von der Nachhaltigkeit gerade in den chronisch besorgten Mittelschichten der westlichen Gesellschaften die Illusion nährt, eine Erhaltung des "status quo" im Konsum sei ökologisch denkbar, ja, bei smarteren Nutzungsverfahren selbst für einen Globus von zehn Milliarden Menschen ein realistisches Entwicklungsziel, könnte man den Begriff in seiner grundlegenden Systemaffirmation sogar für lebensgefährlich halten. Nachhaltigkeit erschiene nach dieser (gewiss zu extremen!) Sichtweise als marketingtauglicher Verdeckungsbegriff mit kollektiver Wohlfühlgarantie - als Ideologie im unheilvollen Letztsinn.

Die erstaunliche Karriere der Nachhaltigkeit leuchtet erst dann vollends ein, wenn man sie als Begleiterscheinung zum Aufstieg des "letzten Menschen" begreift. Darunter versteht die Kulturphilosophie nicht etwa das letzte lebende Exemplar unserer Gattung, sondern den geschichtlichen Augenblick, da der Mensch endgültig die Herrschaft über die Erde als Ganzes übernommen hat.

Ein Entwicklungszustand totaler Vernetzung und Interdependenz, in dem jede menschliche Handlung eines Einzelwesens spürbare Effekte für die Existenz aller hat, in dem sich ökologische und ökonomische Sphäre zu einem komplexen Gesamtsystem schließen. In den prophetischen Worten von Friedrich Nietzsche: "Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht." Der letzte Mensch, das sind wir. Nietzsche traute ihm noch, anders als wir heute, ein nahezu ewiges Leben zu: "Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten."

Nachhaltigkeit wird vor diesem Hintergrund als letzter Leitbegriff des sich in seiner Langlebigkeit unmittelbar bedroht wissenden letzten Menschen verstehbar. Sollte es überhaupt eine produktive Hoffnung geben, die sich an ihn knüpfen kann, dann die, dass er ein Brückenbegriff sein wird, der es dem letzten Menschen ermöglicht, seine Art und vor allem seine Lebensweisen zu überleben, das heißt: Sie hinter sich zu lassen.

Der Autor lebt in Toronto, Kanada, und lehrt Philosophie. Zuletzt erschien von ihm "Das Werden des Menschen im Wort" (Chronos, 2009) und "Kleine Menschen, große Fragen" (Berlin Verlag, 2009)

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