Zur Haftverschonung des U-Bahn-Schlägers:Ein Unrecht geschieht

Im Berliner Nahverkehr treffen Vergnügungssüchtige aus ganz Europa auf die Gestressten der prekären Berufswelt - es wird gebettelt, getrunken und geschubst. Wie hysterisch ist die Richterschelte nach der Berliner U-Bahn-Prügelei?

Jens Bisky

Das Berliner Boulevardblatt B.Z. versucht jeden Tag, die ziemlich entspannte Hauptstadt zu hysterisieren. Am Mittwoch zeigte es auf der Seite eins einen Mittvierziger in weißem Hemd, mit gestreifter Krawatte: "Das ist der Richter, der den Prügler freiließ." Es geht um den Haftrichter, der dem achtzehnjährigen Schüler Haftverschonung gewährte, dessen Attacke auf einen 29-jährigen Berliner unabhängig von allen Zeitungskampagnen erregt.

Ausschnitte des Überwachungsvideos liefen auf allen Fernsehkanälen und können im Internet betrachtet werden. Nach kurzer Rangelei stürzt das Opfer zu Boden, der Täter tritt zu, tritt wieder zu. Er zielt auf den Kopf. Nichts kann ihn stoppen, jetzt ist er dran - das verrät seine Körpersprache. Was, wenn nicht ein einzelner Passant, ein Bayer, beherzt eingeschritten wäre?

Wer dieses Video sieht und keine Wut empfindet, der ist für Recht und Gerechtigkeit verloren. Gewiss, der Täter hat sich selbst gestellt, er ist geständig, Fluchtgefahr besteht kaum. Dennoch sträubt sich alles gegen die Vorstellung, dass er nach kurzer Einvernahme nun wieder auf freiem Fuß ist, geborgen in den "geordneten Verhältnissen", in denen er aufwuchs. Aber was heißt schon "geordnet", wenn der Sohn aus gutem Hause so ausrastet?

So steht man dann am Zeitungskiosk, schaut auf die Titelseite der B.Z. und fragt sich klammheimlich, wie viel B.Z.-Bürger in einem selbst steckt. Die Aufmachung - ein Foto in extremer Untersicht - ist widerlich. Einer soll an den Pranger gestellt werden, ist auserkoren zum Objekt des Volkszorns. Bei Richterschelte ist ohnehin Vorsicht angebracht. Schließlich gehört die Unabhängigkeit der Justiz, die unbeeindruckt von Politik und Stimmungen verfahren soll, zu den höchsten Gütern.

Dennoch befremdet die Haftverschonung, die täterfreundliche Nutzung des Ermessensspielraums. Unverständnis, Befremden, Zorn darüber hört man an Stamm-, Frühstücks- und Cafétischen. Vereinzelt nur äußert sich da Law-and-order-Härte, die Neigung, Probleme einfach wegzuschließen, wie es Gerhard Schröder einst empfahl.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum der Täter ein besonders hohes Anrecht auf Strafe hat.

Auffallende Brutalität

Wer den Gesprächen zuhört, ohne sofort zu den Schweig-still-Argumenten zu greifen - statistisch belegte Abnahme von Gewaltkriminalität, hundertprozentige Sicherheit gibt es nie -, wer neugierig zuhört, begegnet einem Rechtsempfinden, ohne das kein Rechtsstaat leben kann. Ratlosigkeit und Erregung haben gute Gründe für sich. Das Gefühl, dass mit der Haftverschonung Unrecht geschieht, ist nicht von der Hand zu weisen.

Der Tatort, ein Bahnhof des öffentlichen Nahverkehrs, ist ein herausgehobener öffentlicher Ort, mehr noch als Straßen und Plätze. Jeder muss da hin, viele können nicht auf Taxi oder das eigene Auto ausweichen. Die Gesellschaft Berlins konstituiert sich im öffentlichen Nahverkehr, in S-Bahn, U-Bahn und Bussen. Da treffen Vergnügungssüchtige aus ganz Europa, die sich in der freiesten Stadt des Kontinents gern ein wenig gehen lassen, auf die Gestressten der prekären Berufswelt, Alte sitzen neben Schulklassen, schwule Pärchen neben Strenggläubigen, Arme neben Vermögenden, es wird gebettelt und getrunken, gelesen, gedrängelt, geschubst. Hier müssen sich Rücksicht und Zivilisation bewähren.

Die Prügelattacke ist ein Angriff auf diese Alltagsliberalität, in der es ohnehin oft zu Spannungen kommt. Kleinste Übergriffe können da explosive Sprengkraft entfalten. Die Attacke des Schülers war, wie vorangehende Taten auch, von auffallender Brutalität. Da hat einer Gewalt als Souveränität, als Selbstzweck und Bestätigung des Ichs genossen, wie der Folterknecht, den Jan Philipp Reemtsma in seiner Studie "Vertrauen und Gewalt" mit dem Satz zitiert: "Wir sind Gott."

Das am Boden liegende Opfer wurde ganz dem eigenen Willen unterworfen. Für einen Augenblick war der Schüler allmächtig. Das war der Kick - ein Triumph über die Beengtheiten und Begrenzungen des Daseins.

Ein Täter, der das genießt, hat ein besonders hohes Anrecht auf Strafe, die Form, in der die Gesellschaft den Rechtsverletzer als vernünftiges Wesen anerkennt. Er hat den Ausnahmezustand herbeigeprügelt, und es ist schwer zu verstehen, wie er nun so rasch in sein gewohntes Umfeld, in seine "geordneten Verhältnisse" zurückkehren kann.

Die Hauptverhandlung wird das Geschehen im Einzelnen klären. Angesichts der Schwere der Tat wäre der Verbleib in Untersuchungshaft wohl vernünftig und keine unnötige Härte gewesen. Sie hätte dem Täter die Chance zur Einsicht geboten, dass seine Tat ihm eine einfache Rückkehr zur Normalität verstellt. Nun wird Zeit vergehen, bis er die ihm zustehende Strafe erhält.

Man muss nicht von neuen Gesetzen über "Warnschussarrest" träumen; Sonderregeln nach Aufsehen erregenden Fällen bekommen der Rechtsordnung selten. Aber eine scharfe, unverzügliche Ahndung, wie sie den Zürcher Schülern zuteil wurde, die in der Münchner U-Bahn prügelten, wäre für den Täter, für das Opfer und die Stadt allemal besser.

Je pluraler, sympathischer, freier eine Gesellschaft, desto stärker ist sie auf Gewaltfreiheit angewiesen. Wer Gott spielen will, indem er auf Wehrlose tritt, sollte in U-Haft sein Verfahren abwarten dürfen. Er hat eine Grenze überschritten, die nicht streng genug bewacht werden kann.

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