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Zur Hölle fährt man zu zweit: In "Die Sterblichen" erzählt Yiyun Li von dem übermächtigen Unheil, das das kommunistische China erleiden muss

Ulrich Baron

Zwanzig Jahre alt ist die Stadt Hun Jiang, als am 21. März 1979 der Roman von Yiyun Li einsetzt. Entstanden ist sie, als die ländlichen Gebiete China durch den "Großen Sprung nach vorn" industrialisiert werden sollten. Millionen Menschen verhungerten damals, und was vom alten China noch übrig war, wurde ab 1966 vom entfesselten Mob der Kulturrevolution in den Dreck getreten.

Zur Buchmesse: Weltliteratur: "Die Sterblichen" von Yiyun Li.

Weltliteratur: "Die Sterblichen" von Yiyun Li.

(Foto: Foto: Hanser Verlag)

All das ist im Jahr 1979 schon Geschichte. Die Kulturrevolution ist beendet, Mao ist tot. China richtet erste Sonderwirtschaftszonen ein, doch in Hun Jiang spürt man davon wenig. Dieser 21. März ist für den Lehrer Gu und seine Frau der Tag, an dem ihre Tochter Shan hingerichtet werden soll.

Einst eine fanatische Rotgardistin, war sie vom Glauben an die Revolution abgefallen und hatte während ihrer zehnjährigen Haft den Verstand verloren. Schon am Vortag ist die Gebühr von "zwei nicht unhöflichen Beamten" erhoben worden: "Es war Lehrer Gu nie zuvor in den Sinn gekommen, dass er und seine Frau für die Kugel zahlen mussten, die seine Tochter töten würde, doch warum diese Absurdität in Frage stellen, wenn er nicht dazu berechtigt war?"

Gu zählt zu den Intellektuellen, die von der Kulturrevolution zerbrochen wurden. Als Lehrer hat er resigniert, seitdem er von einer Schar "junger Revolutionäre" verprügelt worden war, zu deren wildesten seine eigene Tochter zählte: "Die bloße Tatsache, dass jemand ein Mensch war, schien für sie Grund genug, ihn zu demütigen."

Als er erfuhr, dass Shan, der er "von Kindesbeinen an beigebracht hatte, Gedichte aus der Tang-Dynastie zu rezitieren", einer Schwangeren in den Bauch getreten hatte, hatte er sich in seinem Büro versteckt und einen langen Aufsatz geschrieben - "eine Meditation über das Versagen der Poesie als Erziehungsmittel in einem unpoetischen Zeitalter".

Fürsorglich missbraucht

Shans Hinrichtung vereint die Romanfiguren in einem Reigen, der ihre Leben auf fatale Weise verändern wird. Da ist Bashi, der verwaiste aber vom Staat üppig alimentierte Sohn eines Kriegshelden. Bashi ist ein pubertärer Tor, ein Hundevergifter und Voyeur, der sich nach einer Freundin sehnt. Und da ist Nini, die von ihm fürsorglich missbrauchte Zwölfjährige, das eigentliche Opfer des Trittes, den Shan seinerzeit jener Schwangeren versetzt hatte. Nini ist ein halbierter Mensch. Ihre "schlechte" Seite ist grotesk verkrüppelt, und so konnte sie vor ihrer Bekanntschaft mit Bashi vom Leben kaum mehr erwarten als ein Dasein als Dienstmagd ihrer Eltern und Kindermädchen ihrer Schwestern, die statt Namen Nummern tragen.

Da ist schließlich die Schauspielerin und Nachrichtensprecherin Kai, die in eine aufstrebende Funktionärsfamilie eingeheiratet hat, aber insgeheim mit der Opposition sympathisiert. Aus der gesellschaftlichen Horizontale, aus einem Leben in Kälte und Hunger richtet Yiyun Li hier den Blick nach oben, auf die Eliten, zu denen Kai nicht lange zählen wird.

Während Schüler klassenweise zu "Denunziationszeremonien" geführt werden, die den Tod Shans als grässliches Volksfest umrahmen, verschieben sich die Konstellationen der Figuren. Lehrer Gu zitiert ein altes Gedicht - "Sehen ist nicht so gut wie blind bleiben" -, aber seine Frau will es sich nicht verbieten lassen, öffentlich um ihre Tochter zu trauern und deren Hinrichtung als Mord anzuprangern. Die blutige Demonstration der Staatsmacht wird zum Zündfunken öffentlicher Opposition, zumal aus dem fernen Beijing Gerüchte von einer "Mauer der Demokratie" zu vernehmen sind, an der jeder seine Meinung öffentlich kundtun könne.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die Autorin eine sehr chinesische Geschichte und zugleich Weltliteratur geschrieben hat.

Zur Hölle fährt man zu zweit

Tatsächlich ist die Hinrichtung Shans ein Justizmord. Nicht nur, weil Shan unschuldig und unzurechnungsfähig ist, sondern auch weil der eigentliche Hinrichtungsgrund ihre Nieren sind, auf deren Transplantation ein hoher Kader wartet.

Ironischerweise besteht der Lohn für die Abwicklung dieses Handels, an dem auch Kais Mann beteiligt ist, aus japanischen Fernsehern, aber die einstige Bilderbuchkommunistin wird davon nichts haben. Unter dem Eindruck der Hinrichtung hat sie sich öffentlich auf die Seite der Oppositionellen geschlagen - was 1979 so verfrüht war wie 1989.

Nachdem die Liberalisierung ausgeblieben ist, flammt der rote Terror auf, zerschlägt Opposition, und Oppositionelle, schickt sie in Haft oder vor ein Hinrichtungskommando. Doch was in Büchern wie Yu Huas "Brüder" als brachiale Kakophonie voller Unrat und Obszönitäten auf einen niedergeht, entfaltet die 1972 in Beijing geborene und seit 1996 in den Vereinigten Staaten lebende Yiyun Li in ihrem Debütroman auf eine Weise, die den Rezensenten der New York Times an den italienischen Neorealismus erinnerte. Die Autorin selbst sieht eher den irischen Schriftsteller William Trevor als ihr großes Vorbild. Und man kann sie in der Tat dessen Meisterschülerin nennen.

Yiyun Li nähert sich dem Grauen mit einem vollkommenen Stilgefühl und einem Trevorschen Sinn für erzählerische Ökonomie, für subtile Verzahnungen der großen Rahmenhandlung mit den Schicksalen ihrer Gestalten. Da gibt es zum einen das Ausgesprochene, wenn Ninis entnervte Mutter zu ihr und ihrer nur "Kleine Sechste" genannten Schwester ganz ohne Ironie sagt: "Könnt ihr beide nicht für einen Augenblick tot sein?"

Da ist zum anderen das Unausgesprochene, das Yiyun Li meisterhaft zu zeigen weiß. Nachdem Lehrer Gu bemerkt hatte, wie seine Tochter ihm entglitt, hatte er begonnen, zwanghaft possierliche Papierfiguren zu falten: "Beim Frühstück an einem frühen Sommertag, als Shan auf ihn einredete, dass er sich den revolutionären Jugendlichen fügen sollte, statt mit seinem Schweigen Widerstand zu leisten, ließ er den Papierfrosch hüpfen, und er landete im Reisbrei seiner Frau. Weder Frau Gu noch Lehrer Gu nahmen den Frosch heraus, und da wusste er, dass sie nie wieder gemeinsam als Familie lachen würden."

Übermächtiges Unheil

Yiyun Li zeigt, wie der lebenden Shan die Nieren aus dem Leib geschnitten werden, und enthüllt, dass die tote von dem Mann geschändet worden ist, den ihre Eltern für ihre Beerdigung bezahlt hatten. Um aber die Tragödie der Familie Gu spürbar zu machen, genügt ihr die Beschreibung dieses so kläglich scheiternden Scherzes.

So übermächtig in diesem Roman das Unheil ist, so vielschichtig und ambivalent entwickeln sich die Charaktere. Nini und Bashi zählen zu den außergewöhnlichsten Paaren der Weltliteratur, gerade weil sie aneinander nichts Außergewöhnliches zu erblicken vermögen. Doch kann man sich seine Partner nicht immer aussuchen: "Erinnerst du dich noch an den Tag, als wir Freunde wurden neben der Leiche der Frau?", sagt am Ende der verurteilte Leichenschänder Kwen zu dem ebenfalls inhaftierten Bashi: "Die Pforte zum Himmel ist schmal, und es kann immer nur ein Held auf einmal durchgehen, aber die, die in die Hölle fahren, sagte Kwen, sind immer zu zweit unterwegs, Hand in Hand."

Solch ein infernalischer und zynischer Optimismus wäre ein eindrucksvoller Schlussakzent eines großen, pessimistischen Zeitromans, aber Yiyun Li gelingt noch mehr. Zu ihren Figurenpaaren zählen auch der alte Gua und seine Frau - zwei Menschen aus dem Millionenheer der Wanderarbeiter. Passt der deutsche Titel "Die Sterblichen" zum säkularen Drama der Stadtbewohner, so lautet der Originaltitel "The Vagrants", was aber als "Vaganten" oder "Vagabunden" übersetzt, falsche, romantisierende Assoziationen erwecken würde.

Die Guas sammeln Müll, fegen Straßen und verbreiten um sich eine Aura beinahe heiliger Freundlichkeit. Sieben ausgesetzte Babys haben sie aufgelesen und aufgezogen, sieben Töchter, die ihnen der Staat wieder genommen hat. Am Ende wird die von ihren Eltern verstoßene Nini ihre letzte Tochter werden und mit auf Wanderschaft gehen: "Es gab nichts mehr, was sie in der Stadt oder sonst irgendwo auf der Welt hielt, doch ihre Herzen waren erfüllt von der Hoffnung, die Freiheit des Bettlerlebens wiederzuerlangen."

Kein zynischer Blick in die Hölle, sondern ein Weitergehen bildet den eigentlichen Abschluss dieses Romans - ohne große Erwartungen, aber frei und mit brennender Geduld. Yiyun Li hat eine sehr chinesische Geschichte und zugleich Weltliteratur geschrieben.

Yiyun Li: Die Sterblichen, Aus dem Amerikanischen von Anette Grube. Carl Hanser Verlag, München 2009. 378 Seiten, 21,50 Euro.

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