Süddeutsche Zeitung

Verkehrschaos in Deutschland:Was uns der Winter lehrt

Endlose Kolonnen auf der Autobahn und all die traurigen bis wütenden Vielflieger von Hamburg bis München demaskieren gerade ein Versprechen der Moderne: die ununterbrochene Mobilität.

Gerhard Matzig

Die Bilder werden uns so dramatisch dargeboten wie Berichte vom Flüchtlingselend. Da kauern Menschen zusammengepfercht in großen Hallen, Pritsche neben Pritsche, und umklammern ihre Habe. Da steht der Konvoi frierender Menschen still und starr in eisiger Nacht, ihre Gesichter sind von Hoffnungslosigkeit gezeichnet - Barmherzige reichen ihnen Decken. Da kommt es zum Tumult, es gibt Verletzte. Da stehen die Fahrzeuge in endlosen Kolonnen auf der Autobahn, geronnene, erstarrte Bewegung, und je mehr Stunden vergehen, desto unwahrscheinlicher wirkt es, dass sie sich je wieder in Bewegung setzen. Da gibt es Bilder von eisbedeckten Zügen, die nicht weiterkommen und Eisskulpturen gleichen. Und im ARD-Brennpunkt berichten die Reporter von der Front - von der Kältefront einerseits und vom Schnee-Chaos andererseits.

Es ist Winter, der Verkehr tut das, was er gelegentlich macht im Winter, er kommt zum Erliegen - und die Gesellschaft versinkt im Gefühl, alles zu verlieren.

Zwei Dinge kommen hier zusammen, die allgemeine Mobilität, die das Signum unserer Zeit ist, und das Material, in dem sich diese Mobilität vollzieht, der Stoff, aus dem die Mobilität geschaffen wird, die Fahrzeuge, die Wege und ihre festen Einrichtungen. Was normalerweise zusammengeht, erscheint nun als getrennt, ja gegensätzlich: Die Materie tut nicht mehr, was sie soll, nämlich: sich bewegen.

In völliger Irrationalität wird ein ungleich größerer Verlust betrauert, der Verlust der Freiheit und jener der Kontrolle. Der Winter bedeckt eine Gesellschaft mit Schnee - und zugleich enthüllt er darunter ihre Geschäftsgrundlage: Alles und jedes muss pausenlos unterwegs, verfügbar und zur Stelle sein.

Die Moderne ist eine Gesellschaftsform im Teilchenbeschleuniger. Dieser Winter, und mehr noch das unfassbar laute Geschrei, das um ihn gemacht wird und das umso lauter gerät, je leiser der Schnee rieselt, macht darauf aufmerksam, dass diese Form an ihr Ende kommen wird. Der temporäre Stillstand im Reich des Transitorischen, in Flughäfen, Bahnhöfen, U-und S-Bahnen, auf Straßen und Wegen, zu Wasser, auf der Erde und in der Luft, er zeigt, dass am Ende der rasenden Beschleunigung und einer wie selbstverständlich immer größeren, immer vehementer eingeforderten Mobilität nur Immobilität wartet.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was George Clooney damit zu tun hat.

Wir fahren nicht in den Stau - wir sind der Stau. So viele bewegen sich so schnell und immer schneller, die Räume werden klein und kleiner - und am Ende ist die Weltgesellschaft wieder ein zäher Klumpen bewegungsloser Materie. Für Pascal wäre das ein großer Tag. Pascal ist zugleich die Einheit des Drucks in der Physik und, als Philosoph des 17. Jahrhunderts, der Schöpfer einer bedenkenswerten Sentenz: "Alles Unglück der Menschen entstammt einem, nämlich dass sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können." Der Winter zwingt sie nun dazu. Wobei die Frage dahinter aber lautet: Können wir nicht - oder dürfen wir nicht?

In Industrieländern wie Deutschland sind im Individualverkehr nur etwa zwanzig Prozent der Wege der beruflichen Notwendigkeit geschuldet - weil man nur so den Arbeitsplatz oder die Ausbildungsstätte erreicht, weil man beruflich unterwegs sein muss, weil man nicht anders kann, als sich mit seinem Rollkoffer von Bahnhof zu Bahnhof, von Flughafen zu Flughafen zu schleppen. Indessen reicht die soziale und kulturelle Wirkung dieser Mobilität weit über ihren eigentlichen Gültigkeitsbereich hinaus: Das Dableiben wirkt als Ausnahme, fast schon als Zustand einer existentiellen Behinderung, während die Bewegung als die einzig angemessene Form einer zeitgemäßen Lebenserfahrung erscheint.

Und setzt sich dieses Motiv nicht fort, aus dem Arbeitsleben in die Freizeit, aus der Freizeit in den Urlaub? Gleichen die Städtereisen, die eine erlebnisfrohe Gesellschaft zu ihrem Vergnügen unternimmt, nicht verblüffend genau den Geschäftsreisen? Ist der Urlaub in einem fernen "resort" nicht organisiert wie der Alltag auf Schicht, nur dass dazwischen das Unterwegssein liegt, so als wäre die Mobilität an sich schon ein Ausweis, dass da irgend etwas zu seiner Bestimmung findet? Mag sein, dass diese ganze Ideologie des Unterwegsseins demnächst ein Ende findet. Im höheren und höchsten Management soll es mittlerweile zum guten Stil gehören, kein Mobiltelefon mehr zu besitzen. Nicht mehr so viel reisen zu müssen, wird vielleicht bald von ähnlicher Attraktivität sein. Der Winter lässt uns schon mal üben.

Die bisweilen ästhetisch gestimmte Maschinerie der Mobilität zeigt sich in einer einzigen Film-Minute. Vielflieger George Clooney steht in Up In The Air am Check-in. Wie er das Ticket zieht und das Handgepäck aufs Band legt, wie er die Schuhe auszieht und den Gürtel abnimmt, dazu die Uhr, dann alles wieder einsteckt: Jeder Griff sitzt, reine Effektivität. Der Reisende ist hier Teil einer passgenauen Mechanik. Das Gegenstück, all die traurigen oder vor Wut schäumenden Clooneys in Frankfurt oder München: Sie demaskieren gerade ein Versprechen der Moderne, das sich nun als unhaltbar - aber auch als Zumutung herausstellt.

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SZ vom 22.12.2010/rus/gba
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