Zum Tode von Ilse Aichinger:Voller Sehnsucht nach dem Verschwinden

Ilse Aichinger (österreichische Schriftstellerin)

Ilse Aichinger im Jahr 1973

(Foto: Brigitte Friedrich / SZ Photo)

Ilse Aichinger war eine Ikone der Nachkriegsliteratur, wollte aber nie Erwartungen erfüllen. Zum Tode einer Schriftstellerin, die die Verneinung liebte.

Nachruf von Kristina Maidt-Zinke

Sie besaß diese wunderbare Kraft der Verneinung, die heute fremdartiger anmutet als alles andere. Ihr Motto lautete "Vivere non necesse est", Leben ist unnötig, und sie nutzte jede Gelegenheit, um ihren Gesprächspartnern mitzuteilen, dass sie es für die bessere Alternative halte, nicht auf der Welt zu sein, und für ein bewundernswertes Talent, das Dasein überhaupt durchzustehen. Auch das Schreiben, die Tätigkeit also, durch die sie zum Mythos wurde, zur Ikone der Nachkriegsliteratur, definierte sie von der Negation her, indem sie behauptete, das Nicht-Schreiben sei "der schwierigere und längere Teil dieses Berufes".

Es klang keineswegs kokett, wenn Ilse Aichinger sagte, es müsse von dem, was sie geschrieben habe, für die Nachgeborenen "gar nichts bleiben". Sie wolle keine Spur hinterlassen, erklärte sie noch zuletzt. Das allerdings wird ihr nicht gelingen.

Ilse Aichinger, berühmt und umraunt seit den Fünfzigerjahren, war eine Gegenfigur zum Literaturbetrieb, die lebende Antithese schriftstellerischer Eitelkeiten. Aber sie war deshalb weder schlecht gelaunt noch verbittert oder ostentativ todessüchtig. Das Einzige, womit sie haderte, war die Gewissheit, nach dem Sterben den Triumph des "Wegseins" nicht mehr auskosten zu können, also das Glück des Verschwindens, auf das sie hinlebte und zumindest phasenweise hinschrieb, nicht mehr bewusst zu erfahren.

Traumatisches genug hatte sie erlebt, um sich nach dem Verschwinden zu sehnen

An Erklärungen für diese Weltverweigerung hat es ihren Exegeten nie gefehlt, zumal sie selbst bereitwillig beim Deuten half. Die Zwillingsgeburt, wie sie Ilse Aichinger, Tochter einer jüdischen Ärztin und eines Lehrers, am 1. November 1921 in Wien widerfuhr, spielte dabei eine Rolle. Die Scheidung der Eltern wenige Jahre später, dann die Erfahrung des Nazi-Terrors, vom Berufsverbot für die Mutter und dem knappen Entkommen der Zwillingsschwester bis zur Deportation und Ermordung der Großmutter und anderer Verwandter, das Überstehen der Kriegsjahre, gemeinsam mit der Mutter, in einem Zimmer nahe beim Wiener Gestapo-Hauptquartier - genug Traumatisches, um die Sehnsucht nach dem Verschwinden zum bestimmenden Lebensgefühl zu machen. Aber wenn sie davon sprach oder darüber schrieb, schien noch etwas anderes mitzuschwingen: die souveräne und hellsichtige Fähigkeit, mit einem Fuß im Nichts zu stehen, das eigene Ich und die condition humaine aus weiter Ferne zu betrachten.

Dass sie nicht gewillt war, Erwartungen zu erfüllen, bewies sie schon mit ihrem ersten und einzigen Roman "Die größere Hoffnung", der 1948 erschien. Er verarbeitete die Schrecken der Hitlerzeit und des Krieges in einer Prosa, die befremdete, weil sie sich dem grassierenden Neuanfangspathos und Aufbau-Optimismus widersetzte und weil darin Traum und Realität, Erlebtes und Imaginiertes eine für damalige Verhältnisse unerhörte Verbindung eingingen. Dem Engagement des Verlegers Samuel Bermann Fischer war es zu verdanken, dass das Werk gleichwohl Aichingers Ruhm begründete und dass sie ihre literarische Laufbahn, für die sie sich nach abgebrochenem Medizinstudium entschieden hatte, fortsetzen konnte.

Auf das Ende hin erzählen

Eine Weile arbeitete sie als Lektorin, dann als Assistentin von Inge Aicher-Scholl beim Aufbau der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Fast zwei Jahre schrieb sie an den zwölf Seiten ihrer legendären "Spiegelgeschichte", für die sie 1952 den Preis der Gruppe 47 erhielt. Die Vision einer jungen Frau, die bei einer Abtreibung stirbt und ihr Leben vor sich sieht wie einen rückwärts abgespulten Film, lässt sich bis heute als Konzentrat von Aichingers Œuvre lesen. Ihr poetisches Credo hat sie in der Vorrede zu dem Erzählungsband "Rede unter dem Galgen" so formuliert: "Wenn wir es richtig nehmen, können wir, was gegen uns gerichtet scheint, wenden, wir können gerade vom Ende her und auf das Ende hin zu erzählen beginnen, und die Welt geht uns wieder auf. Dann reden wir, wenn wir unter dem Galgen zu reden beginnen, vom Leben selbst."

Eine seltsam trostreiche Kraft geht von dem halb märchenhaften, halb sachlich-kühlen Surrealismus dieser Geschichte, von der Ungezwungenheit des aller Jenseitshoffnungen ledigen Umgangs mit dem "Drüben" oder "Danach" aus. Damals sprach man in der Gruppe 47 von "Fräulein Kafka", und selbst wenn der Vergleich nur die etwas hilflose Reaktion auf die widerständige Rätselhaftigkeit ihrer Prosa war, gibt es da doch eine subtile Verwandtschaft. Sie drückt sich - ex negativo - auch darin aus, dass Kafka, der "Prophet", für Aichinger alle überragte, obwohl sie seine Genauigkeit und seinen Ernst kaum ertrug.

Eine Wahlverwandtschaft anderer Art verband sie mit dem vierzehn Jahre älteren Günter Eich. Die 1953 geschlossene Ehe glückte ebenso wie die wechselseitige literarische Inspiration, die "Präsenz" des 1972 gestorbenen Lyrikers und Hörspielautors Eich hat Ilse Aichinger bis ins Alter begleitet. Während der gemeinsamen Jahre, in denen die meisten ihrer Erzählungen und Gedichte, Hörspiele und Essays entstanden, wuchsen ihre Sprachskepsis und ihre Neigung zur elliptischen Verknappung ebenso wie ihr Mut zu "reiner bodenloser Anarchie" (Heinz Piontek).

Danach wurden die Zeiten der Schreibabstinenz immer länger. In dem 1987 publizierten Band "Kleist, Moos, Fasane" begann sie, Lebenserinnerungen in Bruchstücken festzuhalten. Ihr nächstes Erinnerungsbuch, "Film und Verhängnis", erschien erst 14 Jahre später und offenbarte, dass die Dichterin gewohnheitsmäßig für mehrere Stunden am Tag der Welt abhandenkam - im Kino: Texte einer Kolumne, die sie seit dem Herbst 2000 für den Standard schrieb, und autobiografische Notizen fügten sich zu einem Rundgang durch die Filmgeschichte, durch die historische Topografie Wiens und durch ein Leben, in dem die Lichtspiel-Sucht den unerfüllten Wunsch nach Selbstauflösung kompensiert hatte.

Für das Rettende der Komik etwa eines Stan Laurel hatte sie als Filmliebhaberin viel Sinn

Damals verriet sie, dass sie erst jetzt das Schreiben als ihren Beruf empfinde - "ein spätes Glück". Sie konnte es noch eine Zeit lang genießen, beim Verfertigen der Standard-Beiträge, die sie im Café Demel auf Speisekarten, Briefumschläge, Rätselhefte oder Einkaufstüten kritzelte. Die daraus hervorgegangene Sammlung "Unglaubwürdige Reisen", erschienen 2005, ist auch eine Hommage an Richard Reichensperger, der sie in den Neunzigerjahren animiert hatte, ihr Schweigen als Schriftstellerin zu brechen. Er hatte ihr Stan Laurel als lebensgroßen Pappkameraden geschenkt, denn er kannte ihren Sinn für das Rettende der Komik. Jetzt hat sie die Reise nach "fort" angetreten, von der in jenem Band so flüchtig wie prägnant die Rede war. Was einmal in der Frankfurter Rundschau über sie stand, lässt sich schöner kaum sagen: "Ihr Werk ist in der glücklichen Lage, dass es gelassen auf Leser warten kann." Nun ist Ilse Aichinger im Alter von 95 Jahren in Wien gestorben.

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