Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Tschingis Aitmatov:Länger als ein Jahrhundert dauert der Tag

Der große kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow ist im Alter von 79 Jahren in Nürnberg gestorben. Mit seiner Novelle "Dschamilja" wurde er weltberühmt.

Jens Bisky

In dem Dorf, aus dem er kam, musste jeder, der etwas gelten wollte, seine Vorfahren kennen, hinauf bis ins siebente Glied. Unerbittlich wurden die Jüngeren examiniert, aus welchem Geschlecht sie seien, wer ihr Vater, wer dessen Vater gewesen, was dieser gemacht habe und was die Leute von ihm reden.

Wer bei dieser Prüfung versagte, zog Schande auf sich. Tschingis Aitmatow, 1928 in Kirgistan geboren, stammte aus dem Geschlecht der "Schaftlosen", derer also, die keine Stiefel hatten - "kein besonderer Grund zum Prahlen", schrieb er später, "aber so war es nun mal." Er wuchs auf in einer Welt rücksichtsloser Vernichtung des Gewesenen, stetiger Auslöschung von Erinnerung. Sein Vater, einer der ersten kirgisischen Kommunisten, fiel dem stalinistischen Terror zum Opfer.

Auch der Sohn wurde nach den Abenteuern einer Kriegskindheit und einem Studium am Technikum Mitglied der Partei. Früh hatte er zu schreiben begonnen. Von der Mutter kannte er die russische Literatur, von der Großmutter die Lieder, Legenden und Märchen der kirgisischen Nomaden. Seine Bücher leben von diesen Gegensätzen und Spannungen: zwischen dem sowjetischen Modernisierungsprojekt und der mittelasiatischen Heimat, zwischen Erinnerungen und Zukunftsentwurf.

Geschichten von Scheiternden

Schon seine Diplomarbeit am Moskauer Schriftstellerinstitut wurde ein Welterfolg. Louis Aragon nannte die Novelle "Dschamilja" die "schönste Liebesgeschichte der Welt". Hier und auch in der Erzählung "Der erste Lehrer" wurden einfache Menschen in ihrem alltäglichen Dasein zu Helden, die großen Entscheidungen und ethischen Problemen gegenüberstanden. Das mochte als sozialistischer Realismus passieren, auch wenn Aitmatow schon in diesen Werken das individuelle Recht auf Glück hochhielt, das sich nie korrekt verrechnen ließ.

Zu seinem eigenen Ton aber fand er mit zwei Romanen: "Abschied von Gülsary" aus dem Jahr 1966 und "Der weiße Dampfer" von 1970. Es sind Geschichten von Scheiternden. Da geht abends der Hirt Tanatabai mit seinem Pferd Gülsary in die Berge. Es wird ihr letzter Gang, und immer wieder drängen sich Bilder der Vergangenheit auf: Triumphe, Feste, Romanzen, vor allem aber Demütigungen durch kleingeistige, starrsinnige Funktionäre.

In rund 150 Sprachen hat man seine Werke übertragen, die deutschen Leser verdanken seinen Übersetzern, allen voran Charlotte Kossuth und Friedrich Hitzer, viel. In den achtziger Jahren wurde er ein Star auch des westlichen Literaturbetriebs, behandelte er mit Naturzerstörung und Kriegsgefahr doch damals überall populäre Themen. Umso heftiger hat die Kritik ihn in den neunziger Jahren attackiert.

Kein Autor für Amüsement und Konsum

Er war kein Autor für Amüsement und Konsum, sondern verstand sein Gewerbe im heute altmodisch wirkenden Sinn als das eines Lehrers, einer moralischen Instanz. Und so wurde er, gerade in der DDR, auch gelesen. "Die Literatur muss selbstlos ihr Kreuz tragen", schrieb er einmal, "sie muss in die Kompliziertheit des Lebens eindringen, damit der Mensch alles Gute und Würdige in sich selbst, den anderen und der Gesellschaft kennt, liebt und behütet. ... Denn der Mensch sucht in der Kunst die Bestätigung seiner besten Bestrebungen und die Ablehnung alles Bösen und Ungerechten, das seinen sozialen und sittlichen Idealen widerspricht."

Die klare Unterscheidung von "gut" und "böse" hat er literarisch durch immer komplexere Konstruktionen balanciert, am gelungensten in seinem Weltroman "Der Tag zieht den Jahrhundertweg" (1980). Erzählt wird die Geschichte des Eisenbahnarbeiters Edige, gespiegelt in der phantastischen Erfindung einer extraterrestrischen Zivilisation, die Krieg und Ausbeutung nicht kennt und irgendwie kommunistisch erscheint. Die Großmächte beschließen, den Kontakt nicht zuzulassen. Wirkmächtig wurde das Buch durch die Legende von den Mankurts, Sklaven, die durch grausame Torturen das Gedächtnis verloren hatten. Wer im sowjetischen Machtbereich das Buch las, wusste, worum es ging. Aitmatow, hochgeehrt und mit wichtigen Funktionen betraut, streifte einige Tabus.

Sein folgender Roman "Die Richtstatt" (1986) wurde ein Signal der Perestroika. Aitmatow schilderte nicht nur Drogenmissbrauch, Kriminalität und Verkommenheit, sondern ließ - nach dem Vorbild Bulgakows - auch Jesus und Pilatus auftreten, den Mann der Gerechtigkeit mit dem Mann der Macht disputieren. Gorbatschow berief den Schriftsteller 1990 als Fachmann für kulturelle Fragen in den Präsidialrat, ernannte ihn später zum Botschafter in Luxemburg. 1995 wurde er zum Abgeordneten des kirgisischen Parlaments gewählt.

Die Gegenwart ist einem Autor, der sich als Dichter-Prophet versteht, nicht günstig. Aber der Erzähler des Reformkommunismus, der Schilderer der endlosen Weiten Mittelasiens wird wohl weiterhin gelesen werden. Zur Behandlung kam der Schwerkranke vor drei Wochen nach Deutschland. Am Dienstag ist er in Nürnberg gestorben. In Kirgistan wird man ihn beerdigen.

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SZ vom 11.06.2008/cag
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