Zum Tod von Sigmar Polke:Der Bilderfresser

Bundesdeutscher Chronist mit Zerrspiegel: Zum Tod des Malers, Anarchisten, Alchimisten und Motivsammlers Sigmar Polke

Catrin Lorch und Kia Vahland

Sigmar Polke ist tot. Was war er nicht alles: unsere Palme, unser Punktemacher, der letzte große Alchimist und deutsche Anarchist, ein Bilderverwerter, Bücherkenner, Jongleur des Banalen und Hohen, Politkünstler ohne Mission, Meister der Nierentische und Affenschwänze. Ach Polke, unsere liebste Kartoffel: "Ja, wenn es überhaupt etwas gibt, auf das all jenes zutrifft, was immer wieder am Künstler diskutiert wird: Innovationsfreude, Kreativität, Spontaneität, Produktivität, das Schaffen ganz aus sich heraus und so weiter - dann ist es die Kartoffel: Man sehe nur, wie sie da, im dunklen Keller liegend, ganz spontan zu keimen beginnt und in schier unerschöpflicher Kreativität Keim um Keim innoviert, und wie sie - ganz hinter ihrem Werk zurücktretend - bald unter ihren Trieben verschwindet und dabei die wunderlichsten Gebilde erschafft! (...) Das ist das wahre Schöpfertum, ist wirkliche Vollendung!"

So redet kein Staatskünstler über sich und sein Werk. So redete nur Polke. Der letzte Dada-Erbe, der den Deutschen zeigte, wie Komik auch sein kann: So klug, dass sie sich selbst nie ernst nimmt. Keine Schenkelklopfer, keine gefälligen Scherzchen, sondern ein stechender, scharf beobachtender Witz, der immer auch auf seinesgleichen zielt, und der am liebsten als Bildwitz daherkommt.

Polke, du musst Palme werden

Alles war ihm dafür Material. Nichts, was die Deutschen von der Nachkriegszeit bis gestern taten, blieb unbemerkt. Geschirrhandtücher waren ihm die bessere Leinwand, und wenn dann noch Dürers Feldhase eingewebt war, umso besser. Und wollten die Deutschen weg aus ihrer Kachelbilder-Gemütlichkeit, träumten sie vom Süden, dann brachte er sie auf die Palme, malte eine "Negerplastik" auf süßliche Fuchs-und Reh-Kindertapete, warf visuell mit Kokosnüssen um sich und bekannte: "Die Palme in ihrer Form und ihrem (Fett-)Gehalt, - in ihrer Furcht und ihrer Gestalt, - sie schien mir etwas in sich zu vereinen, schien mir in ihrer Anmut und in ihrer Nützlichkeit ein Bild zu sein für, - ich weiß nicht was.(...) und zu guter Letzt stehe ich stundenlang auf einer Cocosnuß, nackt, vor Kälte zitterndblau: ,Polke, Du musst Palme werden!' rief es in mir, Palme unter Palmen zu sein, - nichts anderes mehr konnte ich denken."

So mokierte er sich über das Künstlertum, die Symbiose von Maler und Sujet, und mokierte sich auch über sich selbst: "Höhere Wesen befahlen" ihm, eine schwarze Ecke zu malen, so wie Vertreter des Geniekults seit dem 19. Jahrhundert immer von den Eingebungen der Künstler reden, wenn sie nicht über Gründe und Traditionen reden wollen. Einmal stellte er das Gemälde zu einer Vitrine mit einem Documenta-Band zu Beckmann. Dabei wusste er, der Bilderfresser, ganz genau, wie nah er seinen Motiven und Kompositionen war, wie er sie durchdrang und sie ihn - so wie die giftigen Stoffe, mit denen er in seinem Chemielabor experimentierte. Das arsenhaltige Schweinfurter Grün etwa, ein früheres Pflanzenschutzmittel, als Malerfarbe längst verboten, oder die bedenklichen Phosphorfarben, mit denen er die alte Ölmalerei ins 20. Jahrhundert holte. Polke schonte sich nicht, und die Kunst auch nicht.

Sein Pinsel lässt nichts unverändert

Wer den Nierentisch als Grundform wählt und seine Bilder eintapeziert in die gemütlichen Fluchten der Nachkriegszeit, die das Exotische bevorzugt in den eigenen vier Wänden behausten, der fängt schon mit dem Sehen an, bevor er die Tageszeitung aufschlägt, eine Distanz, die vielleicht mitbringt, wer in einem Kriegswinter, am 13. Februar 1941, in Oels zur Welt kommt und mit der Familie zweimal flieht. Einmal aus Niederschlesien und dann wieder, im Jahr 1953, aus der DDR, erst nach West-Berlin, dann ins Rheinland. Sigmar Polke wird zum Glasmaler ausgebildet, bevor er sich an der Düsseldorfer Kunstakademie einschrieb und zunächst bei Gerhard Hoehme, dann bei Karl Otto Götz studiert. Mit seinen Kommilitonen Gerhard Richter und Konrad Lueg - dem späteren Galeristen Konrad Fischer - begründet Sigmar Polke den Kritischen Realismus. Die jungen Maler zielen mir ihrer Malerei auf Amerika, dort hat man aber bereits eine hausgemachte Pop-Art und verzichtet zunächst auf die Deutschen. Die setzen zum Spurt an: Während die Amerikaner noch lange damit zu tun haben, Warenwelt und Museum miteinander kurz zu schließen, und auf Ähnlichkeit beharren, stellt Sigmar Polke, was er findet, vor den Zerrspiegel seiner Malerei. Sein Pinsel lässt nichts unverändert.

Der "Wurstesser" ist eine dieser frühen Ideen, die Leinwand entsteht 1963, da ist Sigmar Polke manchen noch so ein Zeichner, einer, der nicht mehr will, als das Leckere und das Eklige in ein paar dürr-distanzierte Linien einzukreisen. Er legt die Wurstkette auf das zwei Meter hohe Gemälde wie eine lange, lange Aufgabe. Oben rechts, das kleine rosa Profil der Essenden, deren lächelnd aufgerissener Mund noch nicht weiß, wie viel von den Knackern ihm droht, wie viel Wurst und Wurst sie noch wird verschlingen müssen.

Und wo er mit der Kamera unterwegs ist, verleibt er sich ein, was ihm vor die Linse kommt. Auch wenn er die Schnappschüsse eines Wochenendes in Paris im Jahr 1971 in einer Genfer Dunkelkammer auf LSD entwickelt, wird doch eine wohlgestaltete Bilderstrecke daraus. Reisen und Drogen, das ist ihm surrealistische Tradition; aber was die Kamera einfängt, darf Gültigkeit behaupten. Kuratoren berichten, dass er zudem ein manischer Filmer war, der Berge von ungesichtetem Material hinterließ - ein enormer Schatz, den es noch zu heben gilt.

Sinn und Sinnlichkeit ungetrennt

Sigmar Polke und Gerhard Richter, deren Wege sich trennten, wurden die beiden großen deutschen Maler der Nachkriegszeit, die sich in den vergangenen Jahren international auf den Spitzenpositionen der Kunst-Rankings abwechselten. Beide lebten als Zugezogene im Rheinland, beide waren nicht nur da gefragt, wo Kuratoren nach wirklich zeitgenössischer, politischer Malerei suchten, sondern auch bei Sammlern hochgeschätzt; ihre Gemälde sind unter den teuersten die gefragtesten geblieben, über Jahrzehnte.

Ich liebe alle Punkte

Und während Gerhard Richters kluges Ouevre sich früh spaltete in eine malerische Variante, der Abstraktion, und einen klugen Weg, den verwischten Fotorealismus, bekommt man bei Polke immer die ganze Packung: Sinn und Sinnlichkeit ungetrennt. Seinem Atlas verleibte Gerhard Richter ein, was Kameras festhalten - der Chronist Sigmar Polke hortete auch die Entwürfe der Tapetenhersteller, Comiczeichner, Karikaturisten, verwendete Kinderbuch-Illustrationen, Teppichmuster, Märchenfiguren. Gerhard Richter dekodierte die Bilderindustrie, Sigmar Polke domptierte sie. Wie dressierte Katzen sprangen Salamander, Hexen, Anzugträger, Bikinimädchen für ihn durch den Reifen und landeten punktgenau auf dem Gemälde oder dem Zeichenpapier.

Dass sie ihm gehorchten liegt auch daran, wie er über die Punkte herrschte, diese kleinste Einheit der Medienindustrie, die bei ihm vom Grund zur Figur wurde. Weniger Pointillismus also, denn Allover hielten die Punkte jede seiner Bilder-Findungen zusammen, ein Rapport, den er nur angleichen, modifizieren, groß herausstellen musste, um all das Gefundene und Ausgewählte zum Gemälde umzuschmelzen, das einwandfrei ein Polke ist. Der Punkt ist die Größe, die ihm Maßstab blieb, an der er sich bei seinen Experimenten in den Fächern "Detailgigantomanie und Monumentalminiatur", wie Karin Stempel schreibt, festhielt. "Ich liebe alle Punkte", so hat sich Sigmar Polke einmal selbstironisch in einem Katalog erklärt. "Mit vielen Punkten bin ich verheiratet."

Harald Szeemann entdeckte ihn im Jahr 1972 für den Abschnitt "Individuelle Mythologien" für die Documenta. Er war dann auch bei der folgenden Documenta 6 und der Documenta 7 dabei. Das Lenbachhaus zeigte sein Werk schon 1973 in München, bald stellte er in allen großen Museen aus - vom Moderna Museet in Stockholm über das Museum Ludwig in Köln, im Stedelijk-Museum, im Centre Georges Pompidou und dem Martin Gropius Bau. Im Jahr 1986 wurde er mit dem großen Preis für Malerei, dem Goldenen Löwen, auf der Biennale in Venedig ausgezeichnet, er erhielt den Preamium Imperiale, Tokyo, und im Jahr 2007 den Rubenspreis der Stadt Siegen.

Nie staatstragend, nie konform

So kam ausgerechnet der Anarchist unter den deutschen Künstlern, der ehemalige Kommunarde, der Alchimist und Spötter zu Erfolg, er, der bis an sein Lebensende nie staatstragend, nie konform sein wollte. Man hat sich am attraktiven und ironischen Polke delektiert, seinen Witz und Stil geschätzt, und seine schlechten Manieren auch. Junge Künstler rezipieren und verehren ihn, seine Unverfrorenheit und seinen Mangel an Kontrollwut, aber auch seine Gnadenlosigkeit gegenüber der Kunst bei gleichzeitiger Kunstfertigkeit.

Manchem war die Ausstellung in der Londoner Tate Modern zu großmäulig geraten, die im Jahr 2003, dem Jahr, in dem der zweite Golfkrieg begann, die Riesensäle nicht nur mit selbstbewussten Riesenformaten füllte, sondern der ursprünglich in Dallas konzipierten Schau auch einiges an Bildmaterial zum Thema Waffengewalt in den USA zumutete; beispielsweise den Texas-Bilderzyklus (2000 bis 2002), der Ausrisse aus texanischen Zeitungen und Zeitschriften verwurstete. Wie diese Revolverlady, die vor einer durchlöcherten Zielscheibe bekennt: "I Don't Really Think About Anything Too Much" - bunter, goldener, noch unbedarfter als die Vorlage. Damals war das eine unvermittelte Vision, unerwartet waren die Motive, wie er die Schießwütigen in einen schwarzen Ku-Klux-Klan verwandelte. Sigmar Polke war der Maler, bei dem sich die Schattenseite des neuen Jahrtausends schon einmal zum Hexensabbat sammelte - das konnte er sehen, weil er Bilder sehen konnte.

In einem Brief an den Berner Galeristen Toni Gerber hat Sigmar Polke einmal selbst geschrieben: "Da war mal so einer, der Sigmar Polke. Ich glaube der ist nur faul und drückt sich, dabei macht er ja noch Sachen so nebenbei für andere nur nicht für mich und sich und tut so als ob er nichts macht und lässt auch noch andere für sich machen, törnt die halbe Gegend an und ist, wenn man ihn braucht nicht da, verschwindet, weiß von nix und bringt's noch fertig, dass man ihn nicht vergisst."

Nun gibt es ihn nicht mehr, wenn wir einen brauchen, der die Bilder einsammelt wie sie kommen, weil er sie versteht und dem es nicht graust, vor dieser tägliche Bildermaschine, von der Tapete bis zur Tageszeitung. In der Nacht zum Freitag ist er in seiner Wohnung in Köln an einem Krebsleiden gestorben. Er wurde 69 alt.

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