Zum Tod von Ralf Dahrendorf:"Deutschland ist zuweilen unerträglich"

Er war ein geistiger Gründervater der Republik: Der Soziologe Ralf Dahrendorf förderte rastlos den Liberalismus.

Johan Schloemann

Deutschlands größter Liberaler - manche sagen: der einzige große - ist tot. Viele denken heute, ein Liberaler, das sei einer, der die Steuern senken und dann möglichst vom Staat und der Gemeinschaft der Bürger in Ruhe gelassen werden will. Wer so denkt, sei auf das Vorbild des Liberalen Ralf Dahrendorf verwiesen. Im Jahr 1965 rief er dem autoritären Geist in jener Bundesrepublik, die in diesem Jahr, 2009, im milden Licht einer selbstverständlichen, von Anfang an gesicherten demokratischen Entwicklung gefeiert wird, die Worte entgegen: "Es gibt Winkel dieser Gesellschaft, in denen die oft gedankenlose Unmenschlichkeit als System fortlebt. Es gibt den beißenden Kontrast des Geredes von der Humanität zu der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben." Es sei "diese Mischung von theoretischer Humanität und praktischer Unmenschlichkeit, die Deutschland zuweilen so unerträglich macht".

Zum Tod von Ralf Dahrendorf: Anlässlich des 19. Bundesparteitages der FDP diskutierte Ralf Dahrendorf (r.) vom FDP-Bundesvorstand mit dem SDS-Chefideologen Rudi Dutschke (links erhöht) am 30. Januar 1968 vor mehreren tausend Zuhörern in Freiburg.

Anlässlich des 19. Bundesparteitages der FDP diskutierte Ralf Dahrendorf (r.) vom FDP-Bundesvorstand mit dem SDS-Chefideologen Rudi Dutschke (links erhöht) am 30. Januar 1968 vor mehreren tausend Zuhörern in Freiburg.

(Foto: Foto: dpa)

So klang damals Dahrendorfs ungeheuer kraftvolles Buch "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland", das von Jürgen Habermas vor kurzem als "wahrscheinlich der wichtigste mentalitätsbildende Traktat auf dem langen Weg der Bundesrepublik zu sich selbst" gerühmt wurde. Und noch gegen Ende seines Lebens, als ihm das Modernisierungspathos des jungen Tübinger Professors von damals ferner lag, gab er einer Zeitung Auskunft: "Ja, ich bin ein Weltbürger. Mit Immanuel Kant glaube ich, dass die Freiheit erst dann erreicht ist, wenn sie für alle Menschen gilt. Darum ist die aktive Verteidigung der Menschenrechte so wichtig."

So viel also zur sozialen Kälte des Freiheitsdenkens. Man kann Ralf Dahrendorf den Denker und Förderer des partizipatorischen Liberalismus nennen. Aus seiner soziologischen Gesellschaftsanalyse, die ihn zum Klassiker zu Lebzeiten gemacht hat, leitete er das Gebot der Chancengleichheit ab. Soziale Unterschiede und Konflikte sind - so die Analyse in Auseinandersetzung mit Karl Marx und im Anschluss an Max Weber - in den in jeder Gesellschaft unvermeidbaren Herrschaftsverhältnissen begründet, aber sie sind zwischen Bürgern mit gleichen Rechten in vernünftigen Reformschritten abzufedern und auszuhandeln. Soziale Ungleichheiten sind nicht ackselzuckend hinzunehmen - Dahrendorfs Aufruf zur Verbreiterung der Bildungsmöglichkeiten in Deutschland fand in den sechziger Jahren viel Aufmerksamkeit -, aber sie sind auch nicht mit zentraler Planung oder Gewalt einzuebnen.

Prägend waren für Dahrendorf nach seiner Hamburger Promotion ("Der Begriff des Gerechten im Denken von Karl Marx", 1952) die Lehrjahre in London: Er war von 1952-54 Schüler des Philosophen Karl Popper an der London School of Economics (LSE), der er später, von 1974 bis 1984, selbst als Direktor vorstehen sollte. Mancher beliebt heute den antitotalitären Geist der Nachkriegszeit souverän zu belächeln, aber es war nach der Katastrophe des Nationalsozialismus für Deutschland nützlich und heilsam, dass eine Figur wie Dahrendorf von Karl Popper ("Die offene Gesellschaft und ihre Feinde") für den Rest seines Lebens immun geimpft wurde: gegen verknöcherten oder pseudohumanistischen Konservativismus einerseits, gegen linksrevolutionären Dogmatismus und Tugendterror andererseits.

Im Galopp durch viele Rollen

Dementsprechend wirkte Dahrendorf selbst maßgeblich an der geistigen Liberalisierung der Bundesrepublik mit, permanent zu leidenschaftlichen öffentlichen Interventionen bereit. Die Diskussion mit radikalen Köpfen der Studentenbewegung mied er nicht, auch wenn die Reform der Demokratie ihm lieber war als die Revolution und "frankfurtisierende Reden". 1962 kandidierte er in Tübingen für die FDP im Gemeinderat, im Oktober 1967 trat er ihr bei, und 1969 wurde er als Verkörperung des "sozialliberalen" Gedankens kurzzeitig Bundestagsabgeordneter und Parlamentarischer Staatssekretär bei Außenminister Walter Scheel. Dass die Partei sich dann nicht auf dem Niveau Dahrendorfs weiterentwickelt hat, muss nicht weiter ausgeführt werden. Ähnliches gilt für die Hochschulpolitik, die nicht zuletzt dank Dahrendorf einmal Gegenstand ernsthafter geistiger Debatten war.

Wie um seine berühmte pluralistische Rollentheorie des "Homo Sociologicus" (1958) am eigenen Leib vorzuführen, hat Ralf Dahrendorf so rasant seine Laufbahn beschritten, hat er so lebhaft wechselnde Rollen vom Philosophen zum Soziologen, vom Professor zum Politiker oder vom Deutschen zum Briten eingenommen, dass sogar vielen seiner Altersgenossen der unmittelbaren Nachkriegszeit schwindelig wurde, die selbst ebenfalls voll des wissenschaftlichten Tatendrangs und Geltungsdrangs waren. "Er nahm das Leben im Galopp", hat Fritz Stern über seine Begegnung mit Dahrendorf in den Fünfzigern geschrieben, "wechselte die Fächer und überquerte Grenzen, verweilte aber jeweils lange genug, um sich an wichtigen Kontroversen zu beteiligen. Er war rastlos und dynamisch, suchend und kritisch."

Blick nach Westen

Immer der Erste seiner Generation gewesen zu sein, das attestierten ihm Weggefährten erst neulich bei einem Geburtstagskolloquium der Universität Konstanz, die er von 1965 an mitbegründet hat. Ralf Dahrendorf wurde am 1. Mai 1929 in Hamburg geboren, am Tag der Arbeit, den nicht lange danach die Nationalsozialisten zum Feiertag machten - die Nazis also, die nach der These Dahrendorfs dem Land einen "tragischen Modernitätsschub" verschafften, welcher fortan demokratisch und mit Blick nach Westen zu nutzen sei. Sein Vater Gustav Dahrendorf war ein prominenter Hamburger Sozialdemokrat, Redakteur des Hamburger Echo und bis 1933 Reichstagsabgeordneter, der den Nationalsozialismus trotz zweimaliger Inhaftierung überlebte und 1954 starb. Dahrendorf hat dem Vater in seinem autobiographischen Buch "Über Grenzen" (2002) ein Denkmal gesetzt, einem seiner zahllosen Bücher, in dem sich nicht nur die Person, sondern auch der vorbildlich ökononomische Schreibstil Dahrendorfs in all seiner lässigen Präzision beispielhaft besichtigen lässt.

Von 1947 an studierte Dahrendorf Philosophie und Klassische Philologie in Hamburg. Dann kamen die vielzitierten akademischen Rekorde, die aber nicht einfach äußerliche Hochgeschwindigkeitsleistungen nach Art des Schnellstudiums waren, sondern Ausdruck einzigartiger Konzentration, Intelligenz und Wendigkeit: deutsche und englische Doppelpromotion, Habilitation mit 28, ordentliche Professur mit 31 Jahren. Und in dem Takt ging es immer weiter: Dahrendorf war kurzzeitig EG-Kommissar und stets gefragter Berater in allerlei politischen Kommissionen. Spätestens seine englische Zweitheimat, wo er nach der LSE als Dekan des St Antony's College in Oxford wirkte (1987-97) und einen Adelstitel und Lebenszeitsitz im Oberhaus erlangte, machte ihn zu einem der großen europäischen Intellektuellen.

Just am 80. Geburtstag seines Weggefährten und Antipoden Jürgen Habermas kam nun die Nachricht, dass Lord Dahrendorf am Mittwochabend in seiner Kölner Wohnung nach schwerer Krankheit verstorben ist. Erst vor wenigen Wochen war er hochverehrt selbst 80 geworden. Vor einigen Jahren hat er gesagt: "Jetzt sind wir in einer Phase der Unsicherheit. Ein neues Profil sehe ich noch bei keiner Partei. Aber ich sehe neue Fragen, bei denen es alle Parteien mit der Angst kriegen." Wir Nachgeborenen haben nun dafür zu kämpfen, dass das liberale Erbe, das Ralf Dahrendorf hinterlässt, auch in schwierigerer Zeit lebendig bleibt. Ein ebenbürtiger Ersatz für den Menschen aber wird sich so schnell nicht finden.

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