Zum Tod von Philip Roth:Scharfer Sinn für das Unwiederbringliche

Mit 36 Jahren war Philip Roth der wichtigste jüdische Romancier der USA. Spätestens mit seinem Alterswerk avancierte er zum wichtigsten überhaupt. Ein Nachruf.

Von Felix Stephan

1958 hätte Amerika schon ahnen können, was da auf das Land zukam. In dem Jahr erschien "Goodbye, Columbus", die erste Sammlung von Erzählungen des damals 26-jährigen Philip Roth: Neil Klugman, ein junger Mann aus dem kleinbürgerlichen jüdischen Milieu von Newark, verliebt sich da in Brenda, eine Tochter aus einer wohlhabenden Neureichenfamilie, einem Sinnbild des erfolgreichen, aufstrebenden Nachkriegsamerikas, das in seinem Geld ertrank, in dessen ausladenden Häusern aber keine Bibliothek zu finden war.

Er erobert Brenda spielerisch und virtuos, aber sobald er am Tisch der Familie Platz nimmt, langweilen ihn das Klima des Tüchtigen und Anständigen, der Aufstiegsstolz und die Fantasielosigkeit, im Grunde sofort. Als die Rede auf die kommende Hochzeit kommt, überredet er Brenda, sich stattdessen um die Verhütung zu kümmern, woraufhin ihn die Familie verstößt. Angeödet wendet sich Neil Klugman ab, nicht nur von der Familie, sondern von ihrem ganzen Universum, dem geistlosen, geschichtsvergessenen, neureichen Geldimperium namens Amerika.

Allein der unvergessliche erste Absatz, in dem Neil Klugman die bildschöne Brenda erstmals zu Gesicht bekommt: Es ist eine Poolszene, Brenda taucht, schwimmt eine Bahn, rückt mit Daumen und Zeigefinger den verrutschten Badeanzug zurecht, "my blood jumped". Es war also alles sofort da: das kühle, männliche Begehren, die Überheblichkeit des jungen Intellektuellen gegenüber den gesellschaftlichen Leistungsträgern, die Anmaßung des jungen Mannes gegenüber dem morschen amerikanischen Konservatismus, die lyrische Qualität von Philip Roths Prosa, die blanke Schönheit seiner Sprache.

Das Buch wurde damals mit dem National Book Award ausgezeichnet, obwohl den Rezensenten das unverschämte Selbstbewusstsein dieses jungen Talents durchaus aufstieß. Auch das deutete sich in "Goodbye, Columbus" schon an: Dass es nicht mehr als eine Kostprobe war, eine Aufwärmübung, dass hier ein Autor noch kaum Luft geholt und trotzdem schon eines der besten Bücher des Jahres hingelegt hatte. Dass es sich noch nicht einmal um die Ouvertüre für das gewaltige Werk handelte, das auf diese kleine Erzählung folgen sollte, sondern dass hier gewissermaßen noch die Instrumente gestimmt wurden.

In seinem ersten Welterfolg, "Portnoys Beschwerden" holte Roth dann die Posaunen raus. Der Roman ist eine rasende, fast 300-seitige Therapiesitzung, in dem der Ich-Erzähler Alexander Portnoy die Rolle des Patienten und so viel zu sagen hat, dass der Therapeut nie zu Wort kommt.

Alex ist 33 Jahre alt und ein ödipales Wrack, das das Gefühl nicht los wird, in einem jüdischen Witz zu leben: Seine Eltern sind fromme Juden, seine dominante Mutter vergöttert und verhätschelt ihn, sein Vater hat in seinem Leben noch kein Widerwort gegeben und Portnoy, dessen Lebenssucht sich in masturbartorischer Autoaggression äußert, wüsste gern, was mit ihm nicht stimmt. Wieso vögelt er alles, was nicht schriftlich widerspricht, wieso masturbiert er, als gebe es auf der Welt keine andere Beschäftigung, wieso holt er die Unterhosen seiner Schwester aus der Wäsche, um beherzt ihren Duft einzuatmen, was ist nur los mit ihm?

Auf dem Höhepunkt der Offenbarungslitanei erzählt Portnoy, wie er einmal, als sämtliche Regeln des richtigen, anständigen Lebens unterschritten sind und der imaginierte Therapeut längst in den Seilen hängt, das koschere Fleisch, das seine Eltern für das Familienessen am Wochenende in der Küche aufbewahrt haben, geschändet und gewissermaßen zu einer künstlichen Vagina umfunktioniert hat. Legendärer Satz: "Ich habe das Abendessen meiner Familie gevögelt." Der Roman löste bei den jüdischen Verbänden der USA heftige Proteste aus. So fehlbar wurde eine jüdische Romanfigur bis dahin noch nie dargestellt.

Ein Klassiker schon zu Lebzeiten - sein eigener Kanon

Mit "Portnoys Beschwerden" hat Philip Roth sämtliche Hausgötter der jüdischen Romankunst, die bis dahin die Koordinaten des modernen, amerikanischen, jüdischen Daseins ausformuliert hatten, Autoren wie Saul Bellow und Bernard Malamud, von einem Tag auf den anderen aussehen lassen wie Figuren aus einer anderen Zeit.

Ausgeschlagen hat er ihr Erbe indes nie. Die Tradition des osteuropäischen Erzählens, die Echos des Jiddischen aus Czernowitz und Kiew hat Philip Roth, auch wenn seine Romane vor uramerikanischer Daseinsemphase nur so vibrierten, stets mitgedacht. Philip Roth war gerade 36 Jahre alt, als er der wichtigste jüdische Romancier englischer Sprache wurde und ihm nur noch die Aufgabe blieb, der wichtigste Romancier überhaupt zu werden. Und wer wollte ihm diesen Status heute ernsthaft versagen?

Für "Amerikanisches Idyll" hat er den Pulitzer Preis bekommen, für "Sabbaths Theater" zum zweiten Mal den National Book Award. Doch Roth war der einzige Autor der USA, der diesen Würdigungen ohnehin enthoben war, der sich in einer Sphäre darüber bewegte, im direkten Gespräch mit Flaubert, Tolstoi, Dickens, ein Klassiker schon zu Lebzeiten. Sein eigener Kanon. "Das sterbende Tier", "Verschwörung gegen Amerika", "Der menschliche Makel" - als Philip Roth im Jahre 2012 seinen Rücktritt als Schriftsteller verkündete, hatte sein Werk längst das Format der menschlichen Komödie erreicht, das amerikanische Jahrhundert, aufgehoben in mehr als 30 Romanen.

Er habe gesehen, wie die Romane von Saul Bellow im Alter immer dünner geworden sind, weil es ihm immer schwerer gefallen sei, das ganze Buch in seinem Kopf zusammenzuhalten, hat Philip Roth damals gesagt. Und er wolle vermeiden, dass es ihm genauso ergehe. Die wenigen Interviews und Essays, die seitdem erschienen sind, deuteten grell an, wie er schon da fehlte. Er klang in diesen Momenten so wach, hell und witzig wie immer. Vor wenigen Monaten erst hat er noch einen Essay über die amerikanische Identität im "New Yorker" veröffentlicht, dem Magazin, das 1958 auch seine erste Erzählung abgedruckt hatte.

In dem Text hatte er den ständigen Wandel als einzige amerikanische Tradition ausgemacht, "gnadenlosen, destabiliserenden Wandel und die verblüffenden Umstände, die damit einhergehen - Wandel im amerikanischen Ausmaß und in amerikanischer Geschwindigkeit. Radikale Unbeständigkeit als dauerhafte Tradition."

Gemeinhin wird diese Unbeständigkeit als ständige Chance begriffen, als ewige Gelegenheit zum unmittelbaren Aufbruch. Philip Roths Tod, der unbegreifliche Umstand seines endgültigen Schweigens, zeigt nun, dass damit auch ein ständiges Verschwinden einhergeht und dass es Schriftsteller wie er sind, die den Sinn für das Unwiederbringliche schärfen. Er wurde 85 Jahre alt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: