Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Peter Zadek:Er war ein Elefant, Madame

Eine nahezu unfassbare Sogwirkung: Peter Zadek war der frechste, mutigste und vielleicht auch klügste Theaterregisseur seiner Generation. Seine Karriere begann mit einem Erdbeben.

Bernd Graff

Dieser Mann betrat die Bühne der größeren Öffentlichkeit mit einem Wumms. Einem gewaltigem Wumms, wohlgemerkt, an dem nichts zurückzunehmen war, an dem nichts zurückgenommen werden sollte. Ein Erdbeben sollte es sein, ein intellektuell befeuertes Erdeben. Und ein Erdbeben ist es geworden.

Das nachhaltigste, das die deutsche Nachkriegsavantgarde geprägt hat.

Der junge Peter Zadek, der frechste, mutigste, vielleicht auch klügste (und darum am wenigsten larmoyanteste) Theaterregisseur des jungen Westdeutschlands, zeichnete 1969 verantwortlich für einen Kinofilm, den es in solcher Form in deutschen Lichtspielhäusern noch nicht gegeben hatte - und auch danach von kaum einem Verleiher mehr riskiert worden wäre. Zadek machte sich über den Roman "Die Unberatenen" von Thomas Valentin her - und unterlegte ihn mit dem schlagenden Beat des damals verwirrendsten amerikanischen Rockstars Lou Reed.

Zu den nervösen Riffs von "I Am Waiting For My Man", dem Song über einen Junkie, der (immer viel zu lange) auf seinen Dealer mit dem nächsten Schuss warten muss, sah man in Zadeks "Ich bin ein Elefant, Madame" eine Bremer Schulklasse, die Ende der 1960er Jahre den Aufstand gegen ihre Lehrer probt.

Zadek macht daraus keine Romanverfilmung der betulichen Art. Er kombiniert dokumentarische wie fiktive Elemente, zeigt die Revolte der Kids gegen ihre Lehrer als Metapher eines Kulturkampfs, der unbedingt sein will. Zadek dokumentiert einen Generationenkonflikt, der das vergangenheitsvergessene Altdeutschland mit einem jugendlichen Willen zu Freiheit und Fortschritt konfrontiert, der absolut ist - auch absolut in seinem Recht. "You're sick and dirty", heißt es in Reeds Drogensong, "but you're staying alive".

Der Elan einer rebellischen Jugend

Und aus diesem Wissen um die Notwendigkeit und - ja, historische - Unausweichlichkeit des Wandels speist sich der selbstsichere Stil und eine geradezu obszöne Ruhe, die das Alte, Überwundene, das, was man in den Sechzigern "Establishment" nannte, getrost auflaufen lässt gegen den von den Altvorderen nie begriffenen individualistischen élan vital einer obsiegenden Jugend.

Wer heute den Trailer zu diesem Film sieht, erkennt sofort das vielleicht polemische Strickmuster dieser gefilmten Konfrontation. Gegen die Weisheit der Jugend sind ihre Erziehungsberechtigten nur ratlose Artisten, die nach dem Sturz aus der Zirkuskuppel hart auf dem Manegenboden gelandet sind.

Geschichte geschrieben in Bremen

Die Unbekümmertheit in der Provokation und die Souveränität im Einsatz seiner Mittel sind das Markenzeichen des nun 83-jährig verstorbenen Peter Zadek geworden. Damals, zu Zeiten von "Ich bin ein Elefant, Madame", war er unter Intendant Kurt Hübner Hausregisseur im roten Bremen, dem Stadttheater, das bundesrepublikanische Inszenierungsgeschichte schrieb - früher und radikaler als die Schaubühne in Berlin. Dank Zadek.

Der Mann, am 19. Mai 1926 in Berlin als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren und 1933 mit seinen Eltern nach England emigriert, studierte Deutsch und Französisch am St. John Baptist College in Oxford. In London absolvierte er 1946 eine Ausbildung für Regie bei Tyrone Guthrie an der Old-Vic-School. Zunächst arbeitete er als Filmcutter und Fernsehregisseur für die BBC, ehe er sich ganz der Theaterarbeit zuwandte. Erste Inszenierungen in London gerieten zum Desaster. Zadek zog sich in die britische Provinz nach Wales zurück. Nach Erfolgen mit Jean Genets Drama "Der Balkon" übersiedelte Zadek 1958 nach Deutschland, aus dem seine Familie vor den Nazis hatte fliehen müssen.

Im Gepäck hatte er - wie die FAZ einmal schrieb - "drei frühe Prägungen": Das waren "seine Liebe zu Shakespeare; seine Sehnsucht nach dem Boulevard; seine Lust an der aktuellen Provokation". Und damit entfesselte er nicht weniger als die Avantgarde des staubig und marode gewordenen bürgerlichen Bildungstheaters. Zadeks Kunst zeichnete sich, wie auch in seinem Elefanten-Film erkennbar, immer durch souveräne Mischung der Elemente aus: Revue und Realismus, Musical und Tragödie.

Da ging es im schlimmsten Massaker comicbunt und heiter zu wie in der 1988er-Inszenierung von Wedekinds "Lulu", in der die Hauptdarstellerin Susanne Lothar einen ganzen Abend lang nackt auftrat. Da wurde es abgründig, wie 1977 in der Bochumer Inszenierung des Shakespeare-Stücks "King Lear". Da wurde es obskur, wie 1967 in Shakespeares "Maß für Maß" mit Bildern aus Comics, Horrorfilm, Folter und urtümlichen Riten.

Altmeisterliche Triumphe

Zadek entfaltete eine für deutsche Theaterverhältnisse nahezu unfassbare Sogwirkung - bei Publikum wie Autoren und Schauspielern. Das Hamburger Schauspielhaus wies in der Spielzeit 1986/1987 unter Zadek die größte Besucherzahl unter allen deutschen Sprechtheatern aus. Es gibt wohl keinen Granden des Deutschen Theaters, der nicht mit Zadek arbeitete und oft auch kollidierte. Ulrich Wildgruber war sein "King Lear" in der Titelrolle des greisen Königs und in der Revue "Kleiner Mann, was nun?" von Tankred Dorst nach dem gleichnamigen Hans-Fallada-Roman.

Ernst und ganz schwerelos

Begeisterte Kritiken folgten im April 1999 nach der Premiere seines "Hamlet" mit einer grandiosen Angela Winkler in der Hauptrolle und einem minimalistischen Bühnenbild von Wilfried Minks. Diese zu den Wiener Festwochen erarbeitete Inszenierung mit einem von Elisabeth Plessen vorsichtig modernisierten Text zeigte nach Meinung des Spiegel "Shakespeare ganz ernst, ganz einfach, ganz schwerelos". Das Branchenmagazin Theater heute kürte Zadek nach diesem Erfolg mit Frank Castorf zum "Regisseur des Jahres".

Ein ganz anderer Zadek, der sich einem Text vollkommen unterordnen konnte, war dann aber auch etwa in der Bochumer Inszenierung von Tschechows "Die Möwe" und in der Interpretation von Ibsens "Hedda Gabler" zu erleben. Zu altmeisterlichen Triumphen und herausragenden Beispielen eines grandiosen Schauspielertheaters gerieten ihm nach Kritikermeinung auch das lange für unspielbar gehaltene Ibsen-Drama "Rosmersholm" am Wiener Akademietheater mit Gert Voss und Angela Winkler in den Hauptrollen sowie Neil LaButes Bühnenerstling und Zivilisationsschocker "Bash" an den Hamburger Kammerspielen.

Wunderlich, mitunter zänkisch

Die Kritiker jubelten auch über seine Wiener Version von Marlowes "Der Jude von Malta", wiederum mit Voss in der Titelrolle. Er erarbeitete dann mit Ulrich Tukur Tennessee Williams' letztes großes Schauspiel "Die Nacht des Leguan" für das Wiener Akademietheater und zeigte im Sommer 2003 am Deutschen Theater Brechts Lehrstück "Mutter Courage und ihre Kinder" mit einer "hingebungsvoll komischen, zärtlich derben und rabiat menschlichen" Angela Winkler in der Hauptrolle, so die NZZ. Aber auch hier in der Spätphase des Meisters galt nach Meinung des Handelsblatts immer noch: "Es war kein Abend für Bildungsbürger."

Zadek, der Theatermacher, dominierte im Laufe seiner Karriere die Bühnen von Hamburg, Wien und München, Paris und London. Er eroberte die Berliner Volksbühne und das B.E., hier wurde er Kodirektor. In Paris inszenierte er 1991 eine französischsprachige Fassung von Shakespeares "Maß für Maß" mit Filmstar Isabelle Huppert in der Hauptrolle, und in München brachte er Ende 1991 Ibsens letztes Werk, "Wenn wir Toten erwachen", mit Ulrich Wildgruber und Sunnyi Melles in den Hauptrollen heraus. Am Berliner Theater des Westens lief 1992 die von Zadek und Jérôme Savary erstellte Revueproduktion "Der blaue Engel" an, die wie so oft in den Feuilletons kontrovers diskutiert wurde.

"Nie wieder Intendant"

Zadek war ein europäischer Theaterregisseur und Intendant, zeitweise der bestbezahlte seines Metiers. Im Alter wurde er wunderlich, mitunter zänkisch, wenn seine Ideen nicht umgesetzt wurden. So verließ er Hamburg, nachdem er sein "populäres Theater zu Kinopreisen" nicht hatte durchsetzen können. "Nie wieder Intendant - und besonders nicht in Hamburg", rechnete der Regisseur nach seinem triumphalen Erfolg mit Tschechows "Iwanow" am Wiener Akademietheater im Juni 1990 mit der Hansestadt ab.

Für immer jung

Als freier Regisseur arbeitete Zadek nach seinem Weggang aus Berlin, mit dem er nach Meinung des Branchenblattes Die Deutsche Bühne "ein Signal gesetzt hatte, das man nicht ignorieren darf", vor allem in Wien, Salzburg, München und Hamburg. Als eine der besten Inszenierungen der Saison zeichnete die Jury des 33. Berliner Theatertreffens im Mai 1996 seine Wiener Neuinszenierung von Tschechows "Der Kirschgarten" aus, die im September von der Zeitschrift Theater heute als beste Inszenierung des Jahres und im Oktober 1996 mit der Josef-Kainz-Medaille geehrt wurde.

Im Dezember 1996 hatte an den Münchner Kammerspielen Zadeks umjubelte Version von Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" Premiere, und zu den Wiener Festwochen 1997 brachte er in Koproduktion mit den Kammerspielen Shakespeares "Richard III." heraus, der sich nach Kritikermeinung durch Zurückhaltung und eine bei Zadek zu beobachtende "neue Einfachheit" auszeichnete. Zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1998 inszenierte Zadek die Weill-Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" und gab damit sein Debüt in der Festspielstadt.

Peter Zadek, der am 30. Juli 2009 nach schwerer Krankheit verstarb, war kein Mann des Theaters. Er war das Theater: Das Theater, das sich geschworen hat, für immer jung zu sein.

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