Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Otto Sander:Schwerelos auf schwankendem Grund

Otto Sander verstand es, die Komik auf die Seite der Traurigkeit zu tragen - und wieder zurück. Nun ist der große deutsche Schauspieler, der seiner Physiognomie einen unwiderstehlichen Ausdruck von Vergeblichkeit geben konnte, im Alter von 72 Jahren gestorben.

Ein Nachruf von Lothar Müller

Einmal, im Sommer 1998, reiste der Schauspieler Otto Sander in die böhmische Provinz. In der Bar des Hotels wartete er auf seinen Auftritt, trank ein Glas Rotwein, ging dann hinüber ins Schloss und las im Festsaal aus den Lebenserinnerungen Giacomo Casanovas.

Er holte in seine Stimme das Alter hinein, in dem Casanova als Bibliothekar auf Schloss Dux seine Memoiren geschrieben hatte, aber auch den jugendlichen Liebhaber, den der alte Mann in der ungeliebten Provinz wieder zum Leben erweckte. Dann verbeugte er sich knapp, und später im Hotel signierte er Bierdeckel.

Es war etwas von einem Wanderschauspieler in Otto Sander, der die Provinz nicht scheute, der mal auf der Bühne, mal am Filmset, mal am Lesepult die ungeheure Komik auf die Seite der ungeheuren Traurigkeit trug und wieder zurück.

In Hannover war er im Kriegssommer 1941 geboren, aber dass er in Kassel sein Abitur machte und in München Theaterwissenschaft, Philosophie und manches andere studierte, sagt vielleicht weniger über ihn, als dass er, der Sohn eines Flottilleningenieurs seinen Wehrdienst bei der Marine ableistete. Er hatte den schwankenden Boden schon im Blut, als er an der Otto-Falckenberg-Schule in München Schauspielunterricht nahm - wahrscheinlich von Kindheit an, in der er selber Stücke schrieb und Bösewichter spielte.

In den Dramen Anton Tschechows gibt es die "Menschen der achtziger Jahre", die sich in ihrem Leben verlaufen haben. Otto Sander spielte sich in den Siebzigerjahren in diesen Typus hinein. Er hatte in Düsseldorf debütiert und dann in Heidelberg gespielt, bis ihn Claus Peymann 1968 an die Freie Volksbühne nach Berlin geholt hatte.

Schwerkraft irgendeines Untergangs

Und als er dann 1970 an die Schaubühne Peter Steins wechselte, wurde bald, zum Beispiel in seinem Ingenieur Suslow in den "Sommergästen" (1975) sichtbar, woraus er seine Menschen der Achtzigerjahre aufbaute. Er konnte seiner Physiognomie - da mochten Sommersprossen, rote Haare und ein Schnauzer noch so sehr darum bitten, ihre alten Vitalitätsrollen behalten zu dürfen - einen unwiderstehlichen Ausdruck von Vergeblichkeit geben, sie ganz der Schwerkraft irgendeines Untergangs aussetzen.

Er konnte seine Stimme knarzend schlurfen lassen und sie ganz plötzlich straff anziehen wie eine Hundeleine, er konnte seine Gesamtgestalt ins Schwanken bringen, ohne das buchstäblich physisch tun zu müssen, und er machte das alles im "kleinen" Register, wie beiseite gesprochen.

Zum Wanderschauspielerhaften von Otto Sander gehörte auch, dass er nie auf die ganz großen Rollen abonniert war. Er war 2004 in Bochum der "Hauptmann von Köpenick", spielte aber meist eher Claudius als Hamlet wie bei Peter Zadek in Wien 1999.

In Volker Schlöndorffs "Blechtrommel" war er der betrunkene Trompeter und in Wolfgang Petersens Film "Das Boot" nicht der Kommandant, sondern der Ritterkreuzträger Thomsen, der gegen den Untergang antrinkt und dem man nur einmal in die Augen sehen muss, um zu wissen, dass das nichts helfen wird.

Wenig später kam er dann bei Tschechows Menschen an, als Oberst Werschinin in Peter Steins Inszenierung der "Drei Schwestern", der in formvollendeter Haltlosigkeit, die immer mehr zu sich selbst findet, dem großen Brummkreisel zusieht und gelegentlich an einer Rassel dreht.

Da war das minimalistische Zusammenspiel von ratlosen Augen, Stimme, Schultern und Gang schon voll ausgeprägt. Und er hatte in seine Figuren auf schwankendem Grund auch das Lebensgefühl seines West-Berliner Publikums zu Mauerzeiten aufgenommen. Zum Schwanken aber gehörte die Schwerelosigkeit seiner Figuren.

Das zeigt der Engel, den er 1987 an der Seite von Bruno Ganz in "Der Himmel über Berlin" von Wim Wenders spielte, mit nass zurückgekämmten Haaren und hochgeschlagenem Mantelkragen, leicht fröstelnd und mit einer Stimme, die nicht ganz von dieser Welt war.

Ein anderer Film gehört an seine Seite, Otto Sander drehte ihn 1982 zusammen mit Bruno Ganz über die großen Schauspieler-Kollegen Curt Bois und Bernhard Minetti, den Exilanten und den in Deutschland Gebliebenen, den Komiker und den Faust-Darsteller.

Für Entdeckungen im komischen Fach hatte Otto Sander - etwa in der "Cami"-Produktion mit Peter Fitz und Wolf Redl - schon an der Schaubühne gesorgt. Curt Bois und die Slapstick-Tradition der Verformung des Körpers waren in Otto Sander lebendig, als er in Luc Bondys Inszenierung von Botho Strauß' "Kalldewey Farce" zwischen die modernen Mänaden geriet, die Trockenheit in Person, aber in den Schleudergang gepresst.

Es konnte nämlich in seinen traurigen wie in seinen komischen Figuren - und immer wieder waren sie beides zugleich - ein nicht unbeträchtliches Maß an Grausamkeit enthalten sein, vor allem erlittene Grausamkeit.

Widerwillig erlittene Grausamkeit

Es war vor allem Klaus Michael Grüber, der den Jetztzeitmenschen Otto Sander in die antike Welt holte, bei den "Bakchen" als Teiresias, und 1991 in seiner somnambulen Inszenierung von Kleists "Amphitryon", da war Sander der Titelheld, aber die Hauptrollen spielten natürlich Alkmene und Jupiter, und er war, in Mimik wie Haltung, die widerwillig erlittene Grausamkeit. Wie er das durchhielt, war mehr Protest, als es Aufbegehren hätte sein können.

Vor allem in den späten Jahren machte dann seine Stimme eine Solokarriere, las außer Casanova auch Montaigne und Fontane ein, Gegenwartsliteratur, begleitete auf Audio-Guides das Publikum durch die Ausstellungen und Museen nicht nur in Berlin.

Eine Krebserkrankung setzte ihn für einige Jahre außer Gefecht, aber er kam zurück, als Vater in Thomas Bernhards "Der Ignorant und der Wahnsinnige" 2008 in Bochum. "Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten", heißt es bei Goethe. Diese eine schwankende Gestalt war ein Theater für sich. Am Donnerstag ist Otto Sander in Berlin gestorben. Er wurde 72 Jahre alt.

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Quelle:
SZ vom 13.09.2013
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