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Zum Tod von Margarete Mitscherlich:Die große Frau der Psychoanalyse

Sie brachte das Erbe Sigmund Freuds zurück nach Deutschland, war eine herausragende Persönlichkeit und eine der begabtesten Psychoanalytikerinnen Deutschlands. Nun ist Margarete Mitscherlich kurz vor ihrem 95. Geburstag verstorben. Über eine Frau, die so frei war, zu tun, was sie wollte.

Franziska Augstein

Margarete Nielsen, wie sie ursprünglich hieß, kam 1917 im heute dänischen Gråsten (Gravenstein) zur Welt. Sie entstammte einem Akademiker-Haushalt. Der Vater war ein dänischer Arzt, die Mutter eine deutsche Lehrerin. Sie hat die Psychoanalyse in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder seriös gemacht. Sie hat die klinische Psychoanalyse als Methode der Heilung wieder eingeführt.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs gab es die Psychoanalyse in Deutschland nicht mehr. Die freien Geister, die sie vertreten hatten, waren ermordet oder vertrieben worden. Was sich gleich nach dem Krieg in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft wieder organisierte, waren die Reste der verschiedenen Schulen in dieser Disziplin - Jungianer, Freudianer und andere, damals ein wirrer Haufen.

Schon im Jahr 1947 hatte Margarete Nielsen Alexander Mitscherlich kennengelernt. Bald darauf heirateten die beiden. Die Ehe war harmonisch. Und Margarete Mitscherlich durfte es sich leisten, schön auch in den Augen anderer Männer zu sein. Sie profitierte viel von ihres Mannes Berühmtheit.

Schnell, offen in der Rede und auch vorlaut

In den fünfziger Jahren ging sie für ein gutes Jahr nach London. Damals war London, neben New York, die Weltstadt der Psychoanalyse. Bei dem berühmten Analytiker Michael Balint hat sie ihre psychoanalytische Ausbildung absolviert. Alles, was sie bei Balint lernte, brachte sie nach Deutschland. Einer ihrer Schüler, Christian Schneider, sagt: Sie habe die Psychoanalyse nach Deutschland "zurückimportiert". Sie sei eine vorzügliche Analytikerin gewesen, und damit meint Schneider: eine Person, die sein ganzes Leben beeinflusst habe.

In der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) war Margarete Mitscherlich dann eine führende Person. Führend in jeder Hinsicht. Eine Kollegin sagte über sie: "Sie war die schöne Frau der DPV." Sie war schnell, offen in der Rede und auch vorlaut. Und über Dritte hat sie manchmal so offen geredet, dass Christian Schneider sagt: "Das war an der Grenze."

Diese vorlaute, diese manchmal indiskrete Art: Was war das? Wie kann ein professionell arbeitender Mensch auf die Idee kommen, über andere zu schwatzen? Die Antwort ist: Mitscherlich war von ihren Eltern in einem freien Geist erzogen worden. Die Jahrzehnte, die sie dann bis in die sechziger Jahre hinein erlebte, waren von Unfreiheit bestimmt. Also war sie so frei, zu tun, was sie wollte.

Nicht umsonst war ihr Vorbild die Künstlergemeinde von Bloomsbury, die vor dem Zweiten Weltkrieg in London florierte und wo man auch gegen den Stachel des Spießertums löckte. Margarete Mitscherlich hätte gern im Kreis der Freunde von Virginia Woolf gelebt. Wenn ein Mann einen Fleck am Anzug hatte, erzählt Christian Schneider, dann sollte man fragen können: "Lieber, ist das da vielleicht Sperma?"

Sie passte gar nicht ins spießige Adenauer-Deutschland

Diese Haltung passte gar nicht ins spießige, autoritäre Adenauer-Deutschland. Und ohne ihren Mann wäre es Margarete Mitscherlich vielleicht auch nicht gelungen, sie zu leben. Alexander Mitscherlich hat nie eine ordentliche analytische Ausbildung absolviert, entsprechend schlecht war er als Analytiker. Er hatte hingegen andere Vorzüge: Wie ein guter Journalist konnte er fabelhafte Slogans erfinden.

1967 publizierten er und Margarete das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern". Darin ging es um die Frage, wie schlecht die Deutschen mit dem Erbe der Hitlerei zurechtkamen. Kaum jemand hat den Inhalt des Buchs verstanden, berühmt wurde es aber - schon wegen des Titels. Alle psychoanalytischen Passagen in dem Buch, sagt Christian Schneider, seien exzellent. Sozusagen: beste deutsche Wertarbeit. Denn: Sie stammen von Margarete Mitscherlich.

Margarete und Alexander Mitscherlich waren von da an ein Autorenpaar, das immer gemeinsam publizierte. Aber sie war keine große Theoretikerin. Wirklich gut, so sagen alle, war sie im Umgang mit Klienten, als Analytikerin. Am Dienstag ist sie im Kreis ihrer Familie gestorben.

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SZ vom 13.06.2012/rela/cat
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