Zum Tod von Marcel Reich-Ranicki:Vom Verfolgten zur Literatur-Instanz

Als jüdischer Junge in Nazi-Deutschland flüchtete er sich in die Literatur, er überlebte das Warschauer Ghetto. In der Bundesrepublik wurde Marcel Reich-Ranicki zum gefürchtetsten aller Kritiker. Nun ist er im Alter von 93 Jahren gestorben. Stationen seines Lebens.

Von Friederike Stahl

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Quelle: Imago Stock&People

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Als jüdischer Junge in Nazi-Deutschland flüchtete er sich in die Literatur, er überlebte das Warschauer Ghetto. In der Bundesrepublik wurde Marcel Reich-Ranicki zum gefürchtetsten aller Kritiker. Nun ist er im Alter von 93 Jahren gestorben. Stationen seines Lebens.

Marcel Reich wurde 1920 als Sohn eines polnisch-jüdischen Vaters und einer deutsch-jüdischen Mutter in Włocławek (Lesau), Polen, geboren. Dort besuchte er die deutsche Schule. Im Jahr 1929 übersiedelte seine Familie nach Berlin, wo er das Gymnasium besuchte - und die Liebe zur Literatur entdeckte.

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Quelle: Imago Stock&People

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Im Berlin der späten 1920er Jahre - die Nationalsozialisten standen kurz vor der Machtübernahme - hatte Reich mit vielen Einschränkungen zu kämpfen: Wegen seines polnischen Akzents wurde er von Klassenkameraden gehänselt. Und aufgrund seiner jüdischen Herkunft war er von schulischen Aktivitäten wie Sportfesten und nationalsozialistischen Schulversammlungen ausgeschlossen. Reich verbrachte seine Zeit anders: mit der Lektüre deutscher Klassiker ...

Marcel Reich-Ranicki, 1999

Quelle: Regina Schmeken/SZ Photo

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... und dem Besuch von Theater und Konzerten. Er hatte seine Berufung gefunden. Doch bevor Marcel Reich zu Marcel Reich-Ranicki, dem bekanntesten Literaturkritiker des Landes wurde, hatte er noch viele weitere Rückschläge einzustecken: 1938 war es ihm zwar erlaubt, sein Abitur zu machen, studieren aber durfte er nicht. Die Aufnahme an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin blieb ihm aufgrund seiner jüdischen Abstammung verwehrt.

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Teofila, 1999

Quelle: dpa

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Noch im selben Jahr wurde er nach Polen deportiert. Sein Geburtsland war ihm fremd geworden, er musste die polnische Sprache neu lernen, ein Jahr lang war er auf der Suche nach Arbeit. 1940 wurde er ins Warschauer Ghetto umgesiedelt, arbeitete und lebte dort als Übersetzer und schrieb unter dem Pseudonym Wiktor Hart Konzertrezensionen.

Im Warschauer Ghetto lernte Reich seine spätere Ehefrau Tosia Langnas kennen - unter tragischen Umständen: Ihr Vater Pawel Langnas erhängte sich im Jahr 1940, nachdem die deutsche Besatzungsmacht ihn und seine Frau vertrieben und enteignet hatten. Reichs Mutter, die im selben Haus wie Familie Langnas wohnte, schickte ihren Sohn Marcel zu Tosia - er sollte ihr Trost spenden. 1942 heirateten die beiden. Im Jahr 1943 gelang dem Ehepaar die Flucht aus dem Ghetto, die beiden konnten sich 16 Monate bei einer befreundeten Familie verstecken.

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki

Quelle: Getty Images

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Nach seiner Befreiung begann Marcel Reich seine Tätigkeit bei der polnischen kommunistischen Geheimpolizei. Der Großteil seiner Familie hat den Nationalsozialismus nicht überlebt: Sein Bruder und seine Eltern wurden ermordet.

1948, als Sohn Andrew geboren wurde, ging die Familie nach London: Reich wurde Konsul in der polnischen Botschaft. Dort legte er sich den Namen Marceli Ranicki zu - Reich klang seinen Vorgesetzten zu deutsch. 1949 bat er aus politischen Gründen um seine Abberufung. Er ging nach Warschau zurück und wurde Anfang 1950 aus dem Geheimdienst sowie aus dem Dienst im Außenministerium entlassen. Man warf ihm "ideologische Fremdheit" vor, schloss ihn aus der Kommunistischen Partei aus - und steckte ihn in Einzelhaft.

Marcel Reich-Ranicki (Literaturkritiker)

Quelle: Sueddeutsche Zeitung Photo

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Nach seiner Entlassung arbeitete er in einem großen Warschauer Verlag als Lektor für deutsche Literatur und begann schon Ende 1951 als freier Schriftsteller zu arbeiten. Auch das jedoch unter erschwerten Bedingungen: 1953 erteilten die polnischen Behörden ein einjähriges Publikationsverbot.

1958 verschlug es ihn endgültig zurück nach Deutschland - und in die Literaturszene: Er wurde Literaturkritiker im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, unter dem Namen Marcel Reich-Ranicki. Der Feuilletonchef der FAZ, Hans Schwab-Felisch, hatte ihm vorgeschlagen, es bei dem Doppelnamen zu belassen.

Später war Reich-Ranicki 13 Jahre lang bei der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit tätig, bevor er zur FAZ zurückkehrte, dort von 1973 bis 1988 die Literaturredaktion leitete - und zum berühmtesten und gefürchtetsten Literaturkritiker des Landes wurde.

(Archivbild aus dem Jahr 1970)

DAS LITERARISCHE QUARTETT

Quelle: OBS

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Besonders berühmt wurde Reich-Ranicki aber in einem anderem Medium - in dem von ihm später scharf kritisierten Fernsehen: Von 1988 bis 2001 leitete Reich-Ranicki die Diskussionsrunde Das literarische Quartett im ZDF. Insgesamt besprach das aus Hellmuth Karasek (Mitte), Siegrid Löffler (ab 2000: Iris Radisch, links im Bild), Marcel Reich-Ranicki und einem wechselnden Gast bestehende Quartett rund 400 Buchtitel.

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki

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Nur Freunde gemacht hat sich Marcel Reich-Ranicki in seiner Rolle als Kritiker nicht: 1976 verriss der Kritiker einen Roman des Schriftstellers Martin Walser (l.) so sehr, dass Walser sich von Reich-Ranicki abwandte. 2002 erschien Walsers Schlüsselroman Tod eines Kritikers, in dem er Reich-Ranicki und die Kulturszene scharf kritisierte. Für Wirbel sorgte auch Reich-Ranickis Rezension im Spiegel über Günter Grass' Roman Ein weites Feld aus dem Jahr 1995. Unter dem Titel Mein lieber Günter Grass ließ der Kritiker - in Briefform - kein gutes Haar an diesem Buch. Daraus erwuchs ein emotional geführter Literaturstreit um die Grundsatzfrage, wie in Deutschland mit Büchern und Meinungen umgegangen werde.

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki

Quelle: SZ

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In den vergangenen Jahren wurden Marcel Reich-Ranicki und sein Lebenswerk mit allen möglichen Preisen, Büchern und Filmen gewürdigt: Anlässlich seines 80. Geburtstages wurde 2000 ein Bildband herausgegeben, ...

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki erhält Ehrendoktorwürde

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...2006 wurde ihm von der Universität Tel Aviv (Israel) und 2007 von der Berliner Humboldt-Universität die Ehrendoktorwürde verliehen.

Henri-Nannen-Preis 2010

Quelle: Malte Christians/dpa

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Für sein journalistisches Lebenswerk wurde Reich-Ranicki im Jahr 2008 mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet.

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bei der Verleihung Deutscher Fernsehpreis

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Seine Verweigerung des Deutschen Fernsehpreises im Jahr 2008 löste heftige Diskussionen aus. Reich-Ranicki wollte die Ehrung für sein Lebenswerk nicht annehmen, weil er die Qualität der deutschen Fernsehunterhaltung anzweifelte.

'Mein Leben': Filmbiografie über Reich-Ranicki bei Arte und in der ARD

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Im Jahr 2009 wurde die Autobiographie des Kritikers mit Matthias Schweighöfer (im Bild rechts) in der Hauptrolle verfilmt. Schweighöfer spielt den jungen Reich-Ranicki, der während eines Verhörs seine Lebensgeschichte erzählt.

Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki

Quelle: dpa

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Zu seinem 90. Geburtstag im Jahr 2010 erhielt Reich-Ranicki die Ehrenmedaillie der Boerne-Stiftung.

Tosia Reich-Ranicki ist tot

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Ein Jahr später starb seine Frau Tosia im Alter von 91 Jahren. Nach ihrem Tod zog sich Reich-Ranicki fast gänzlich aus der Öffentlichkeit zurück.

Gedenkstunde im Bundestag

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Eine Ausnahme bildete 2012 seine Rede im Bundestag: Als Zeitzeuge gedachte er anlässlich des Holocaustgedenktages der Opfer des Nationalsozialismus.

Reich-Ranicki fürchtet Feiern zum 90. Geburtstag

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Marcel Reich-Ranicki gab im März dieses Jahres bekannt, an Prostatakrebs erkrankt zu sein. Am 18. September 2013 ist er im Alter von 93 Jahren gestorben.

© Sueddeutsche.de/rus/kar/noa
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