Am Ende war die Ähnlichkeit unübersehbar. Gezeichnet von schweren Krankheiten, zitternd und schwankend, schleppte sich der eine über die Redner-, der andere über die Konzertbühnen. Beide wollten und konnten nicht ablassen von ihrer Berufung. Mit immer schwächer werdenden Stimmen kündete der eine von den höchsten, der anderen von den niedersten Dingen. In weiße und in schwarze Fantasieuniformen gewandet, zelebrierten sie ihr öffentliches Sterben als Gebot verkörperten Glaubens auch dann, wenn der Körper nicht mehr wollte. Ihr trotziger Kampf gegen die Mucken der Materie ließ sie in den Augen ihrer Gemeinden umso heller erstrahlen.
Und so kam es, dass der 1945 geborene Ian Fraser "Lemmy" Kilmister, der frevlerische Wüstenvater des Rock'n'Roll, der heillose Spieler, Sünder, Herumtreiber, Speedfreak und Verächter der Religionen, für die Rockmusik letztendlich die gleiche Funktion bekleidete wie der vor ihm verstorbene Johannes Paul II. für die katholische Kirche. Im Jahr 2012 sagte Kilmister: "Ich habe immer davon geträumt, Papst zu werden. Leider habe ich die falsche Religion erwischt." Sie hat sich dann doch nicht als so falsch erwiesen.
Seit 1975 schrieb Lemmy als Sänger und Bassist der britischen Rock'n'Roll-Band Motörhead Rockgeschichte. Im 21. Jahrhundert avancierte er zum Übervater der harten Szene, überhäuft mit Attributen wie "authentisch" oder "Original".
Lemmy wusste nie weiter
Im Gegensatz zu vielen seiner Star-Kollegen zeichnete sich Lemmy durch einen Ethos des Unterlassens aus. Er verfasste nie einen Fitnessratgeber. Er wusste nie weiter. Er präsidierte keine Stiftung zur Rettung Tibets. Er fand keinen Gefallen am Golfspiel. Er schwor den Drogen nicht ab. Er legte sich nie einen asymmetrischen Haarschnitt zu. Er verspeiste weder Maden im Dschungelcamp noch entdeckte er die Wonnen der Ayurveda-Küche. Er unterstützte keine Parteien, weil er wusste, dass sie es eh alle vermasseln, egal ob rechts oder links. Bis zuletzt komponierte er Ketzerballaden wie "God Was Never On Your Side". Wenn er in Werbespots mitspielte, dann nur für Dinge, die für ihn und sein Gefolge elementar waren: Bier, Chips, Süßkram. Und eine Versicherung.
Der bekennende Polytoxikophile hauste, so lange es die Gesundheit erlaubte, in einer Zwei-Zimmer-WG mit sich selbst, vollgestopft mit zum Totalitarismus-Impfstoff umcodierten Nazi-Devotionalien. In diesem bizarren Gehäuse wurde er sich selbst immer ähnlicher. Sogar sein schwarz gefärbtes Haar wirkte irgendwann echt. Zu der Zeit, da sein Herz nurmehr mit Hilfe eines Schrittmachers schlug, hatte er einen derart hohen Grad an Selbstreferenz erreicht, dass Fans ihn in Bildwerken als Gottvater verewigten. Lemmy aber lehnte die Apotheose ab und betonte, dass Gott kein Diabetiker sei, er hingegen schon.
Lemmy taugte nicht zum Oberlehrer von Nationen, sondern allenfalls als schrulliger Guru für postmetaphysische Sinn-, und mehr noch für Unsinnsucher. Man liebte ihn nicht, weil er sich anmaßte, die Weltläufe wortreich zu erhellen. Das Höchste der Gefühle waren Einsichten wie "Das Geheimnis des Lebens? Sex und Tod!" oder Ratschläge wie "Halt dein Pulver trocken!".
Am liebsten aber sang er, neben schneller Liebe über sinnlose Kriege, religiösen Wahn und irre Killer. Als das posthistorische Europa ratlos in den Rachen des Islamischen Staates starrte und darin das Erbrochene längst überwunden geglaubter Irrationalität, Grausamkeit und Todessehnsucht emporquellen sah, wirkte Lemmys Insistieren auf dem dünnen Eis der Zivilisation und der darunter brodelnden Ursuppe aus Kontingenz, Chaos und Gewalt weniger denn je pubertär als vielmehr prophetisch.
Dass er sich den verführerischen Duft dieser Suppe zufächelte, dass er seine berauschende Wirkung unverbrämt beschrieb, aber nie von der Suppe trank, machte seine Größe aus. Den Pariser IS-Terroristen von 2015 beschied er knapp: "Feiglinge! Sie mögen den Rock'n'Roll nicht. Und ich mag sie nicht. Würden wir aufhören, hätten sie gewonnen. Aber mich kriegen sie nicht unter." Da war er 69 Jahre alt.
Menschen wissen Ehrlichkeit zu schätzen
Krieg als solcher war für ihn schlicht "dumm - die logische Fortsetzung von Politik". Im Herzen war der Pfarrerssohn aus dem englischen Stoke-on-Trent stets Anarchist, Hedonist und Liberaler, vielleicht sogar Pazifist. 2010 sagte er dieser Zeitung: "Lemmy ist für Nichteinmischung - schreiben Sie das!"
Der seit 1990 in Los Angeles exilierende Eigenbrötler erfuhr kultische Verehrung, weil er die Vergeblichkeit, Lächerlichkeit und Grausamkeit der Menschheitsgeschichte schonungslos, ohne erlöserische Heilsversprechen benannte. Menschen, das blenden Pfaffen, Politiker, Glückstrainer und Anlageberater gemeinhin aus, wissen Ehrlichkeit zu schätzen, ja sie kommen sogar mit Realitäten zurecht. Genau da, wo die Sinnillusion endet, beginnt die eigentliche Arbeit an Sein und Selbst. So zeigte Lemmy, dass es möglich ist, auch auf einem mit der toxischen Asche zweier Weltkriege und dem Knochenmehl unzähliger Religionskriege bestreuten Parkett das Tanzen zu lernen.