Die Autorität, die der klassischen Musik damals in der DDR zufiel, gründete vermutlich nicht zuletzt auf dem Umstand, dass sie deren Herrschaftsgebiet räumlich und zeitlich überschritt. Wenn Maler, Schriftsteller oder Regisseure in den Westen gingen, dann war das meist ein Abschied für immer und im Konflikt über Politisches. Wenn Peter Schreier, der Thomanerchor oder Kurt Masur die Welt bereisten, dann als Experten für Bach aus dessen Heimatregion; ihr Arbeitsgebiet war älter als der Sozialismus.
Daher vielleicht auch die heute mitunter als nischenossihaft und konservativ belächelte Kulturbeflissenheit des bildungsbürgerlichen Milieus gerade in Sachsen; ein Konzertbesuch konnte damals auch eine kleine Republikflucht sein, während sich schon einen Sitzplatz weiter ein strammer Genosse genauso beglückt seiner kulturellen Vorgeschichte vergewisserte. Klassische Orchester waren nicht ohne Grund auch die einzigen Staatsbetriebe in der DDR, denen immer wieder auch Leute aus dem Westen vorstanden. Klassische Musik, könnte man sagen, transzendierte die Mauer und die ideologischen Gräben.
Der Dirigent, der das Innehalten befahl
Insofern war Leipzig am 9. Oktober 1989 gesegnet mit einer Figur wie Kurt Masur, die wie ein mindestens ebenbürtiger Partner der Staatsmacht erschien und Demonstranten wie Polizisten "Keine Gewalt!" zurief. Es spielt da, vor allem für die Geschichtsbücher, keine so besonders große Rolle, dass dieser Aufruf auch noch von ein paar anderen kam oder auch anderswo (zum Beispiel tags zuvor in Dresden) "Keine Gewalt"-Verhandlungen zwischen Bürgern und Staat zustande gekommen waren. Denn wer kennt die heute noch? Kurt Masur war der, den auf allen Seiten alle kannten: der Dirigent, der im Crescendo der Revolution das Innehalten befahl. Orchestermusiker behaupten manchmal, dass sie im Zweifel auch ohne klarkämen. Aber das Publikum tut es nicht.