Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Jorge Semprún:Von Treue und Verrat

"Du wirst Präsident oder ein großer Schriftsteller": Jorge Semprún hat nicht nur einen, sondern beide Wünsche seiner Mutter halbwegs eingelöst. Der KZ-Überlebende entwickelte sich zu einem der größten Literaten Spaniens und reifte in der Politik zum überzeugten Europäer.

Franziska Augstein

Im privaten Gespräch hat Jorge Semprún im Jahr 2005 einmal geklagt: Sein neues Buch "Zwanzig Jahre und ein Tag", das zur Franco-Zeit in Spanien spielt, habe in Frankreich auf Anhieb nur eine Auflage von 30.000 Exemplaren erzielt. Er fand das enttäuschend: "Wenn ich über Buchenwald schreibe, dann werden ganz schnell mindestens 60.000 Exemplare verkauft. Woran liegt es, dass meine Bücher, die nicht von Buchenwald handeln, sich schlechter verkaufen?"

Semprún konnte es nicht leiden, wenn andere Menschen betrieben, was er fishing for compliments nannte. Er wusste, dass es ihm selbst nicht fern lag, sich auf diese Weise Bestätigung zu verschaffen. Und als er seine Frage stellte, wusste er natürlich, dass seine Erzählungen aus dem Konzentrationslager den Nerv der Zeit treffen und er als grandioser "Zeitzeuge" galt. Das hat ihn irritiert. Er wollte als Schriftsteller anerkannt werden, nicht als Überlebender.

Dessen ungeachtet sind seine Bücher über die Gefangenschaft im Konzentrationslager Buchenwald seine besten: "Die große Reise" schrieb er auf Französisch, 1963 kam das Buch heraus - zu einer Zeit, als noch kaum jemand sich für die Erlebnisse der KZ-Überlebenden interessierte. Dass dieses Buch trotzdem sogleich mit einem Preis ausgezeichnet wurde, dürfte an Semprúns erzählerischer Perspektive gelegen haben.

Anders als Primo Levi oder Robert Antelme, die schon lange vorher zu Papier gebracht hatten, was ihnen widerfahren war, hat Semprún das Ausmaß der Erniedrigung, das KZ-Häftlinge erdulden mussten, aus einer gewissen Distanz geschildert.

Achtzehn Jahre hatte er gebraucht, um dem Erlebten seine literarische Form zu geben, um das Unglück und den Tod aus der Perspektive des letztlich souveränen Beobachters zu beschreiben, dessen Ego sich von nichts und niemandem anfechten lässt, weder von den Umständen der Lagerhaft noch von den Nazis oder den älteren deutschen Kommunisten, die in Buchenwalds interner Organisation das Sagen hatten, auf den jungen Spanier herabblickten und sich mit Lebensmitteln sehr viel besser zu versorgen wussten als er.

Zugriff auf die Ironie

Die Selbststilisierung, die damit einherging, erlaubte ihm den darstellerischen Zugriff auf die Ironie, ja den Humor. Während Levi und Antelme erst später berühmt wurden, hat Semprún sein erstes Buch von 1963 so verfasst, dass es für den damaligen Zeitgeist nicht schockierend war.

Semprún hatte immer schon Schriftsteller werden wollen. Von seiner Mutter, die starb, als er acht Jahre alt war, fühlte er sich sehr geliebt. Unter seinen sechs älteren und jüngeren Geschwistern fühlte er sich ausersehen: "Meine Mutter hat mir gesagt: Entweder du wirst der Präsident der Republik oder ein großer Schriftsteller." Das war der Auftrag.

Wie sehr er an seiner Mutter hing, zeigte sich noch 2007, als er einen Zeitungsausschnitt mit einem Bild von ihr, der gerahmt auf seinem Bücherbord steht, nur nach einigem Zögern aus den Händen gab, damit dieser für den Druck reproduziert werden könne.

Flucht im Bauch eines Fischerbootes

Jorge Semprún entstammte einer großbürgerlichen spanischen Politikerfamilie. Die Patriarchen der mütterlichen Linie waren aufgeklärte konservative Monarchisten, aber Jorges Vater war ein Republikaner: Als Spanien sich 1931 zur Republik machte, wurde José María de Semprún y Gurrea ein Provinzgouverneur.

1936 brach der Bürgerkrieg aus. Die Familie wurde in den langen Sommerferien an der nordspanischen Küste vom Vordringen der Franquisten überrascht. Sie floh, versteckt im Bauch eines Fischerbootes, zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen. Nun begann, was Semprún mit einem Wort von Karl Marx "die lange Nacht des Exils" genannt hat.

Nur ein Mensch mit einem guten Ego kann unbeschadet überstehen, was Semprún von da an erlebt hat. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei. Dann brach er sein Philosophiestudium an der Sorbonne ab, um sich 1943 der Résistance anzuschließen.

Weil es in der Résistance viele tatkräftige, aber zu wenige besonnene junge Männer gab, flog Semprúns kleine Einheit wenige Monate später auf. Die Gestapo folterte ihn. Er ertrug den Schmerz, er sagte nichts aus. Er wurde, wie er sagte, in seiner Gefängniszelle "vergessen" und im Januar 1944 nach Buchenwald deportiert, das Lager für politische Häftlinge.

Die kommunistische interne Lagerverwaltung bekam schnell Kunde von dem jungen spanischen Kommunisten, der seiner guten Erziehung halber das Deutsche verstand, und setzte ihn in die Schreibstube. Das hat Semprún vermutlich das Leben gerettet. Wenn er über das KZ schrieb, hat er immer bedacht, dass es ihm unendlich viel besser ging als anderen, die in den Fabriken arbeiten mussten, im Steinbruch, in den Stollen des Außenlagers Dora.

Nach Paris zurückgekehrt, und nachdem eine unbedacht geschlossene Ehe in die Brüche gegangen war, wollte er tun, wozu er 1936 zu jung gewesen war: Gegen den Franquismus kämpfen. 19 Jahre lang hat er heimlich, mit gefälschten Papieren im Auftrag der spanischen Kommunistischen Partei alljährlich Monate in Spanien verbracht, um dort Intellektuelle für die Sache der KP zu gewinnen und - nachdem er Mitglied des Zentralkomitees der Partei geworden war - auch die geheimen Gewerkschaften in den Fabriken zu koordinieren.

In Spanien war er unter seinem Decknamen Federico Sánchez berühmt. Andere Kritiker des Franco-Regimes haben sich später über ihn lustig gemacht: Er sei als Heilsgestalt aufgetreten. Der Spott war nicht ganz unbegründet. Semprún hatte Charisma. Das hat bis kurz vor seinem Tod jeder erlebt, der ihn öffentlich reden hörte.

Weil er - anders als seine Genossen - frühzeitig und mit Machtanspruch auf eine Linie einschwenkte, die später die italienische KP populär machte - den demokratischen, entstalinisierten Eurokommunismus -, wurde er 1964 aus der Partei ausgeschlossen.

Im intellektuellem Zentrum der Welt

Nun begann sein Leben als Schriftsteller und Drehbuchautor. Die nötigen Kontakte und Freundschaften hatte er längst. Die große Enttäuschung über den Misserfolg des Kommunismus hat Jorge Semprún überwunden, weil er nun im damaligen intellektuellen Zentrum der Welt agierte: in Paris. Für Alain Resnais schrieb er das Drehbuch für "Der Krieg ist vorbei". Für Constantin Costa-Gavras die Drehbücher zu "Z" und "Das Geständnis".

Semprún, der immer ein Schriftsteller hatte werden wollen, sagte später oft, er sei kein "echter" Schriftsteller: Er müsse nicht dringend schreiben. "Wenn ein Freund mich anruft, der auf Durchreise in Paris ist, dann lasse ich meine Arbeit liegen und treffe ihn." Sein Verständnis von einem Schriftsteller war romantisch geprägt: Der Autor ist inspiriert, er hat einen Drang zum Schreiben, dem er völlig erliegt.

So hat er selbst nie gearbeitet, für ihn war das Schreiben Arbeit, die mitunter auch auf Kosten der Nagelhaut eines Daumens ging. Seine Bücher unterteilte er in die "romans romans", also Erfindungen, und die bloßen "romans", damit meinte er seine Erzählungen aus Buchenwald.

Der EU eine Seele gegeben

Drei Bücher sind es vor allem, die seinen Ruf begründen: "Die große Reise", noch aus der kommunistischen Perspektive geschrieben. 1981 wurde sein Roman "Was für ein schöner Sonntag!" in Frankreich publiziert. Darin spiegelt sich sein Abschied vom kommunistischen Ideal. 1994 erschien in Frankreich "Schreiben oder Leben", seine Bilanz der Erinnerungen ans KZ.

Den zweiten Wunsch seiner Mutter hat Jorge Semprún immerhin halbwegs eingelöst: Von 1989 bis 1991 war er Spaniens Kulturminister. Er wurde vor der Zeit seines Amtes enthoben: Machtpolitik lag ihm, Konsenspolitik weniger. Ideell sah das anders aus: Wenige haben so eloquent für Europa und die EU gesprochen wie Semprún. Er vermochte einzulösen, was Jacques Delors sich gewünscht hat: Wenn Semprún über Europa sprach, hat er der EU eine Seele gegeben. Am vergangenen Dienstag ist Jorge Semprún im Alter von 87 Jahren in Paris verstorben.

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SZ vom 09.06.2011
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