Zum Tod von Jacques Derrida:Die Erfahrung des Unmöglichen

In Amerika wird er wie ein Idol verehrt, seine europäische Heimat blieb lange auf Distanz. Eine Schule der literarisch inspirierten Melancholie: Der französische Philosoph Derrida.

Von Thomas Steinfeld

Jacques Derrida, der am Freitag in Paris gestorben ist, war einer der letzten Philosophen, deren Ruf noch weit über die Universität hinausdrang, und er war der letzte überhaupt unter den französischen Denkern, die in den sechziger Jahren auszogen, um - in einem auf alle absehbare Zeit finalen Aufbäumen der Philosophie gegen die Gewissheiten des praktischen wie des theoretischen Lebens - noch einmal die Welt gründlich neu zu denken.

Zum Tod von Jacques Derrida: Jacques Derrida

Jacques Derrida

(Foto: Foto: dpa)

Die bahnbrechenden Arbeiten von Jacques Derrida, "Die Schrift und die Differenz" oder die "Grammatologie", stammen aus den sechziger Jahren; Michel Foucault, Jacques Lacan und Gilles Deleuze, die Gefährten jenes Aufbruchs, sind schon lange tot. "Da der Großteil der Denker, mit denen ich verbunden war, gestorben ist, behandelt man mich immer öfter wie einen Überlebenden", schrieb Derrida in einem seiner letzten Texte (Lettre International, Heft 66/2004).

Volksgut Dekonstruktivismus

Auf mannigfaltige Weise ist der Dekonstruktivismus längst in das Volksgut der gebildeten Stände eingezogen und lebt dort weiter - ein lebendiger intellektueller Impuls aber ist er nicht mehr. Jacques Derrida scheint das gewusst zu haben.

Im Dezember 1995 hielt er auf dem Friedhof von Pantin die Totenrede auf Emmanuel Lévinas, den Philosophen des Anderen und Fremden, des unerschöpflichen und nicht berechenbaren Menschen: "Schon seit langer, seit so langer Zeit hatte ich die Befürchtung, Emmanuel Lévinas adieu sagen zu müssen."

Doch kaum hat die Ansprache begonnen, beginnt Derrida seine eigene Rede und seine Situation als Redner zu dekonstruieren: "An wen wendet man sich in einem solchen Augenblick? Und in welchem Namen maßt man sich das Recht an, es zu tun? Oft unterbrechen diejenigen, die hervortreten, um eine öffentliche Rede zu halten, ein bewegtes Murmeln, einen verschwiegenen oder persönlichen Austausch, der einen im Innersten an den toten Freund oder Lehrmeister bindet; oft wenden sich diejenigen, die sich so auf einem Friedhof vernehmen lassen, direkt, geradeheraus an den, von dem man sagt, er sei nicht mehr... Manchmal mit Tränen in der Stimme, duzen sie den Anderen, der sein Stillschweigen bewahrt."

Die Erfahrung des Unmöglichen

So geht Dekonstruktivismus, und meist sind seine kreisenden Bewegungen komplizierter, weitschweifiger, langatmiger als im Fall dieser Rede: Der Dekonstruktivismus ist ein ruheloses, poetologisches, nicht enden wollendes Befragen eines jeden Textes, bis in die verborgensten Winkel der Bedeutungen, des Satzbaus und der Etymologien hinein - immer wieder beginnt er von vorn und immer wieder geht er über sich selbst hinaus.

Ein Ende dieser Befragungen gibt es nicht. Der Dekonstruktivismus kennt keine grundsätzlichen kategorialen Differenzen, kein Resultat und kein Ziel. Statt dessen gibt es das Unterscheidende selbst, das Zeichen, das, was in eine amorphe Welt schneidet und eine Sache von allem anderen trennt. "Écriture" nennt Derrida diesen Schnitt, aber die "Schrift" ist hier nur eine Metapher für ein begriffliches Setzen im weitesten Sinne.

Der Dekonstruktivismus ist diesem Setzen selbst auf der Spur, deswegen gibt es für ihn keinen Sinn, sondern nur Aufschub, Vertagung, Verspätung. Diesen Figuren wird man nur in Form von stets vorläufigen Deutungen gerecht. Dekonstruktivismus, meinte Derrida, wieder einmal zu einer Definition seines Unternehmens gedrängt, sei die Erfahrung des Unmöglichen. Irgendwann, es muss in den frühen neunziger Jahren gewesen sein, ist seine Lehre an diesem Vorbehalt zu einer Schule der literarisch inspirierten Melancholie geworden.

Als der Dekonstruktivismus seinen Siegeszug begann, in der Mitte der sechziger Jahre, konnte er als exklusive Angelegenheit einer akademischen Elite gelten. Im Dekonstruktivismus schien die internationale Elite der Geisteswissenschaften noch einmal dogmatisch werden zu wollen - wider die Soziologisierung der humanistischen Fächer, dafür aber im Handstreich und mit dem ultimativen Gedanken, Theorie sei nur noch als ihr eigenes Scheitern möglich.

Dabei war Jacques Derrida nur mit Mühe in diese Elite vorgestoßen: Geboren im Juli 1930 im algerischen El-Biar, musste er als Zwölfjähriger das Gymnasium verlassen, weil er seinem Direktor als Jude zuviel war. Dann führte der Weg in die École normale erst einmal über ein verpatztes Abitur, eine Zwischenstation in Marseille und ein doppeltes Scheitern in der Aufnahmeprüfung an den Boulevard Raspail.

Die Doktorarbeit verteidigte Derrida erst 1980, als weltberühmter Mann von fünfzig Jahren: Er habe das (durchaus widersprüchliche) Gefühl, schreibt er in jenem späten Artikel, "daß zwei Wochen oder einen Monat nach meinem Tod nichts mehr bleiben wird". Bis zuletzt scheint er sich selbst als eine fast dissidentenhaft zufällige, abhängige Existenz wahrgenommen zu haben.

Die Erfahrung des Unmöglichen

Derridada

Als seine Lehre vor dreißig Jahren auch in die deutschen Universitäten vordrang, galt er als Dunkelmann, als Kopf einer radikalen Gegenaufklärung. Von heute aus betrachtet, nimmt sich die damals geläufige Verbindung von Derrida und Dada zu Derridada wunderlich aus, auch wenn einem die Überzeugung der Dekonstruktivisten nicht einleuchten muss, dass der Kampf gegen den "Logozentrismus" - also die Verbindung von Denken und Macht - ausgerechnet mit logischen Mitteln gewonnen werden soll.

Damals, in den sechziger und siebziger Jahren, scheint vor allem der fehlende Funktionalismus im Denken gestört zu haben, und vermutlich auch die Verbindung zur Sprachphilosophie Heideggers. Was verbirgt sich im Dekonstruktivismus, wenn nicht eine geläufige philosophische Tradition? Erstsemestern der Philosophie wird häufig erklärt, es gebe zwar ein Philosophieren, nicht aber die Philosophie. Die Idee, dass jemand in seinem Denken interessant sein kann, auch wenn er nicht Recht haben muss, ist im Dekonstruktivismus stark und prinzipiell geworden.

Traditionsbewusst am Dekonstruktivismus ist auch das Verhältnis zur historischen Bildung: Eher als die Zerstörung aller Traditionen, als die man lange Zeit den Dekonstruktivismus betrachtet hat, war er deren letzte Bestätigung: Sein wirksamstes Motiv war eine völlig über sich selbst aufgeklärte Form der Bewunderung für die großen Werke in Literatur und Philosophie, für Hegel und Husserl, für Rousseau und Valéry.

In Amerika ein Idol, in Europa auf Distanz

Jacques Derrida war in den Vereinigten Staaten, wo er bis zuletzt einen Lehrstuhl an der University of California in Irvine innehatte, populärer als in seiner europäischen Heimat. In Frankreich ist er nie bis in die Niederungen der Provinzuniversitäten vorgedrungen, in Deutschland ist er ein Autor für Haupt- und Oberseminar geblieben.

In Amerika aber war er Idol einer intellektuellen Rebellion, die als Widerstand gegen ein angeblich totalitäres Denken eine ganze Generation junger Gelehrter auf dem Weg in das unbefristete Lehramt begleitete und für eine radikale Partikularisierung der akademischen Welt sorgte.

Nach dem ersten Golfkrieg allerdings rückte Jacques Derrida zurück in die Mitte des europäischen Denkens - halb scheint er diese Rückkehr selbst betrieben zu haben, halb widerfuhr sie ihm. Mit der zunehmenden Distanz der Europäer zur Ideologie eines amerikanischen Weltreichs erschien der Dekonstruktivismus als dezidiert europäisches Denken, als Gewährenlassen von Widersprüchen, als Negation, als Misstrauen gegen alle Affirmation.

Am Ende agitierten Jacques Derrida und Jürgen Habermas - ein noch vor zwei Jahrzehnten unmögliches Paar - gemeinsam für ein starkes Europa. Darin wird, da darf man sicher sein, Jacques Derrida auch nach seinem Tod überleben.

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