Zum Tod von Doris Lessing:Wanderin zwischen Welten und Anschauungen

Literaturnobelpreis-Trägerin Doris Lessing

Doris Lessing im Januar 2008

(Foto: REUTERS)

Es ging in ihren Romanen um Afrika und Kolonialismus, um Feminismus und Gleichstellung - und um Science-Fiction. Die britische Schriftstellerin Doris Lessing war stets in rastloser Bewegung und dem Zeitgeist voraus. Den Literaturnobelpreis erhielt sie aber dennoch erst, als ihr Werk bereits zu verblassen begann.

Von Bernd Graff

Doris Lessing galt als die Frau, die immer alles richtig und - vor allem - immer alles im Sinne politischer Korrektheit richtig gemacht hat. Dabei war ihr das oft gar nicht so wichtig. Irgendwann zu Beginn der achtziger Jahre muss es ihr, die sie damals schon seit Jahrzehnten ein Star in der humanistisch gebildeten wie gesinnten Literaturszene war, in den Sinn gekommen sein, die Verfahrensweisen der eigenen Szene, der Literaturbranche, aufs Korn zu nehmen, genauer: sie vorzuführen.

Die am 22. Oktober 1919 in Kermanshah im heutigen Iran geborene, britische Schriftstellerin war seit dem Erfolg (und der sofortigen Verfilmung) ihres Debütromans "Afrikanische Tragödie" aus dem Jahr 1950 wirtschaftlich unabhängig und konnte seitdem vom Schreiben leben. Den Durchbruch zu internationalem Ruhm schaffte sie 1962 mit ihrem bekanntesten und über eine Million mal verkauften Roman "Das goldene Notizbuch", der vor allem in Deutschland Ende der siebziger Jahre zu einer Kultschrift in der Frauenbewegung wurde.

Über dreißig Jahre (und annähernd so viele Romane) nach dem Erstling gefiel es Doris Lessing jedoch, zwei Titel unter dem Pseudonym Jane Somers zu verfassen und auch unter diesem Namen bei verschiedenen Verlagen zur Veröffentlichung einzureichen, unter anderem ihrem eigenen. Sie erhielt nur Absagen, fand beinahe keinen Verleger dafür und verkaufte dann von beiden Büchern lediglich 4500 Exemplare insgesamt - in England und in den USA zusammen.

"Nichts ist so erfolgreich wie Erfolg"

Lessing, die sich selbst als schwieriges, rebellisches Kind beschrieb und unter ihrer überstrengen Mutter litt, sah darum ihre Vermutungen bestätigt, dass unbekannte Autoren im Literaturbetrieb keine faire Chance bekommen: "Ich wollte den ganzen erbärmlichen Prozess der Verlagsbranche aufzeigen", meinte sie dazu. In ihm gelte: "Nichts ist so erfolgreich wie Erfolg."

Allerdings, und hier schmunzelte und rümpfte die Literaturkritik nach Bekanntwerden der Geschichte ein wenig die Nase, war man von Lessings literarischem Vermögen im Laufe der Jahre immer weniger überzeugt. Gesinnungsliteratur hat man das damals genannt, man hatte also Ambition und die Korrektheit vernommen, den literarischen Wert an der Umsetzung jedoch immer mehr vermisst.

Und insofern war man auf Kritikerseite gar nicht einmal so sehr davon überzeugt, dass die Verlage mit ihrer zögerlichen bis ablehnenden Reaktion auf Jane Somers' Schaffen denn wirklich so falsch gelegen hätten. Beide Romane erhielten wegen der ins Pathetische und Larmoyante abgleitenden Diktion auch überwiegend negative Kritiken.

Bereits in ihren ersten Romanen und Erzählungen, die auch damals schon nach Kritikermeinung weniger durch ihre stilistische Brillanz als vielmehr durch intellektuelle Redlichkeit, präzise psychologische Analyse und Moralität überzeugten, befasste sich Lessing mit der Darstellung rassischer Gegensätze, mit dem Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten, mit dem Begriff der Gewalt und des Krieges und mit der Stellung der Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft.

"Immer schon wieder ganz woanders"

"Das goldene Notizbuch" behandelte Anfang der sechziger Jahre Fragen zur Gleichstellung der Geschlechter, zu einem Zeitpunkt also, als diese Fragen in ihrer Brisanz noch gar nicht im gesellschaftlichen Mainstream aufgetaucht waren. Als man Lessing schließlich als Poetin der Frauenbewegung feierte, räumte diese freimütig ein, sich nie als Feministin verstanden zu haben.

Vielleicht rührte ihr Ruhm ja sowieso daher, wie die tageszeitung einmal analysierte, "dass sie selbst zu dem Zeitpunkt, als die bewegten Frauen ihre Bücher lasen, schon wieder ganz woanders war." Die rastlose Bewegung und das "immer schon wieder woanders"-Sein war für Doris Lessing bezeichnend.

Die Tochter eines britischen Kolonialoffiziers und einer irisch-schottischen Krankenschwester, war etwa in den Jahren zwischen 1944 und 1949 mit dem deutschen Emigranten und KP-Mitglied Gottfried Anton Nicolai Lessing verheiratet, dessen Schwester die Mutter des deutschen Politikers Gregor Gysi ist. Nach 1949 übersiedelte Lessing nach England und engagierte sich dort zeitweilig in der KP. Nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn (1956) ging sie indes wieder auf Distanz zur kommunistischen Ideologie und trat auch aus der Partei wieder aus.

In Deutschland erschienen Lessings Werke erst spät

In Deutschland wurde die Autorin Lessing aber erst nach dem politischen Aufbruch von 1968 und im Zusammenhang mit einer neuen Frauenliteratur entdeckt. So erschien in deutscher Übersetzung ihre Jahrzehnte alte Pentalogie "Kinder der Gewalt" mit den Romanen "Martha Quest" (im Original: 1952; auf deutsch 1981), "Eine richtige Ehe" (1954; 1982), "Sturmzeichen" (1958; 1983), "Landumschlossen" (1965; 1983) und "Die viertorige Stadt" (1969; 1984).

In diesem Romanzyklus versuchte Lessing, dargelegt am Schicksal der Heldin Martha Quest "die Analyse des individuellen Bewusstseins in seinem Zusammenhang mit der Gesellschaft" zu leisten. Doch während die Kritik diese zweitausend Seiten lange Wegbeschreibung noch als "großen Bildungsroman" und "Besichtigung eines Zeitalters" begriff und glänzend rezensierte, war Doris Lessing schon wieder mal woanders. Sie widmete sich (auch wie immer nur kurzzeitig) einer Schreibweise, die sie "inner space fiction" nannte.

Es war ein Schreiben als Nabelschau des Bewusstseins auf der Suche nach dem menschlichen "Weltinnenraum". Wer darunter eine Mischung aus etwas Esoterik, aufgebrühter Weltreligion und metaphorisch-assoziierendem Psychologismus verstand, lag so falsch nicht. Inspiriert vom Sufismus, der sanften Mystik des Islam, und den Psychotheorien C. G. Jungs schildert Lessing in den eher knappen Romanen "Anweisung für einen Abstieg zur Hölle" (1971; dt. 1981) und "Die Memoiren einer Überlebenden" (1974; dt. 1979) die Entwicklung der Menschheit nach einem Atomkrieg.

Ein Thema, das sie danach in den fünf Bänden, die in den Jahren 1979-1982 unter dem Globaltitel "Canopus in Argos: Archive" erschienen, vertiefte. Für Doris Lessing selbst galt dies als ihr wichtigstes Werk. Nach diesem Ausflug in das Science-Fiction-Genre kehrte sie aber 1983 mit ihren "Jane Somers"-Romanen wieder in die unmittelbare Gegenwart und zu ihrem realistischen Erzählstil zurück.

Erste Reisereporterin für die gute Sache

Im Gegensatz zu den "Somers"-Romanen, in denen das gesellschaftskritische Element nur im Ansatz erkennbar war, ließ der folgende Roman "Die Terroristin" (1985) bei Lessing wieder ein deutliches Bemühen um eine Revision des sozialen Wertesystems erkennen. In dem Roman "Das fünfte Kind" (1988) befasste sich die Autorin kritisch mit der bürgerlichen Mittelschicht in England.

Ab da wurde sie so etwas wie Erste Reisereporterin für die gute Sache: Ihr dokumentarischer Reisebericht "Der Wind verweht unsere Worte" (1987) entstand nach einem Besuch in Pakistan im Herbst 1986, wo Lessing mit Flüchtlingen aus Afghanistan, aber auch mit Widerstandskämpfern und ihren Führern Kontakt aufgenommen hatte. 1992 erschien mit "Rückkehr nach Afrika" ein weiterer Reportageband, der vier Reisen (seit 1980) in den neuen Staat Simbabwe dokumentierte. Ein Versuch Lessings, die Entfremdung von diesem Ort ihrer Kindheit zu überwinden.

Große Beachtung fand dann der erste Teil ihrer Autobiographie "Unter der Haut", der die Jahre 1919-1949 umfasst. Nach Meinung der tageszeitung scheute sie bei diesem Lebensbericht "weder das große politische Resümee noch die Küchenpsychologie". Mit dem Band "Schritte im Schatten" setzte sie ihre Autobiographie bis in das Jahr 1962 fort.

Verwunderung über Literaturnobelpreis - und Ärger

Lessing schrieb seit 1982 fast jedes Jahr einen Roman. Dabei kamen ihre Bücher bei den Rezensenten und Literaturkritikern nicht immer gut weg, zum Schluss immer seltener. Doris Lessing erhielt demgegenüber mehr Sympathie für ihre Interviews, in denen sie ihre politische Meinung und ihr Engagement für eine pragmatische Sozialethik kundtat. In ihren ab 2000 veröffentlichten Werken wandte sich Lessing wieder vermehrt Afrika zu, "wobei sie", wie die NZZ schrieb, "den Kontinent zum Fokus akuter Bedrohungen und zu einer Art Panoptikum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stilisiert."

Als Doris Lessing dann im Jahr 2007 den Nobelpreis für Literatur erhielt, waren die Verwunderung und auch der Ärger groß über die Schwedische Akademie der Wissenschaften, die den Preis verleiht. Auch wenn Doris Lessing schon seit Jahrzehnten zu den üblichen Verdächtigen unter den Preisanwärtern zählte, hielt man andere Kandidaten dennoch immer für preiswürdiger.

So rühmte die Schwedische Akademie Lessing als "Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen hat." Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagte hingegen mit Verweis auf verdientere Autoren wie Philip Roth und John Updike, er finde die Entscheidung der Akademie "bedauerlich und enttäuschend".

"Der bessere Friedensnobelpreis"

Viele Kritiker monierten vor allem die mangelnde literarische Qualität ihrer Werke. So meinte Harald Bloom, der Doyen der konservativen amerikanischen Literaturkritik, er fände Lessing schon "seit 15 Jahren völlig unlesbar." "Hätte man Doris Lessing den Preis doch früher zugesprochen!", wand sich die Frankfurter Rundschau, "eine Literatin von großer Meisterschaft werden sie wohl die wenigsten nennen", meinte die tageszeitung. Und die Süddeutsche Zeitung urteilte bündig: "Die Akademie ratifiziert die symbolische Bedeutung einer Autorin in dem Moment, in dem ihr Werk bereits zu verblassen beginnt."

In einem Kommentar für die SZ schrieb Andrian Kreye damals: "Betrachtet man die Liste der 181 Kandidaten, von denen einer Friedensnobelpreisträger wird, dann drängt sich der Schluss auf, dass der Nobelpreis für Literatur der bessere Friedensnobelpreis ist. Denn man kann Doris Lessing literarische Schwächen vorwerfen. Ihre Biographie dagegen ist tadellos - hier gibt es keinen Ausrutscher, hier ist alles politisch korrekt." Doch ihre wabernden Interessen in dieser Korrektheit machten aus "politischer Korrektheit eine biographische Stapelware, und das muss es auch sein, was das Nobelpreiskomitee der Schwedischen Akademie meinte, als es verkündete: 'Dies ist eine der am besten durchdachten Entscheidungen, die wir jemals getroffen haben.' Die Überraschung jedenfalls ist gelungen."

Lessings erster Roman nach der Verleihung des Nobelpreises mit dem Titel "Die Kluft" (2007) wurde von der Fachkritik einhellig verrissen. Die Schilderung einer mythischen Gesellschaft seehundartiger "Spalten", deren friedliches Matriarchat durch plötzlich auftretende männliche Nachkommen aus dem Gleichgewicht gebracht wird, sei voller Klischees und zu dürftig, wurde am häufigsten moniert. Danach wurde es stiller um die Literatin. Dennoch ist mit der großen Katzenliebhaberin Doris Lessing jetzt eine Wanderin zwischen Welten und Anschauungen gestorben, die vielleicht paradigmatisch ist für ihr 20. Jahrhundert, in dem sie - zwar vielstimmig - zu einer der prägnantesten Figuren wurde, welche die Globalisierung hervorgebracht hat.

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