Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Daniil Granin:Ein alter Soldat, aber einer mit klarem Kopf

Daniil Granin hat den Opfern der Belagerung Leningrads ein Denkmal aus Worten errichtet. Jetzt ist der große russische Autor in Sankt Petersburg gestorben.

Nachruf von Tim Neshitov

Im Januar 2014 sprach Daniil Granin im Bundestag mit der stillen Wucht eines alten Soldaten. So stellte er sich dem hohen Gremium vor: Er komme nicht als Schriftsteller nach Berlin, nicht als Zeitzeuge, sondern als Soldat. Ein Soldat, der Leningrad (heute Sankt Petersburg) gegen Hitlers Wehrmacht verteidigt hatte. Ein sehr alter Soldat, geboren 1919, aber einer mit klarem Kopf und in der Lage, vierzig Minuten auf den eigenen Beinen zu stehen, wenn er schon vor dem Bundestag reden darf.

Nach diesem Auftritt wurden Daniil Granin und Helmut Schmidt Freunde, jener Schmidt, der seinerseits mit der 1. Panzerdivision den Vormarsch auf Leningrad mitmachte. Und mit diesem Auftritt wird Granin wohl auch den meisten Deutschen in Erinnerung bleiben. Am Montag starb Daniil Granin im Alter von 98 Jahren in seiner Heimatstadt Sankt Petersburg.

"Der Tod begann, wortlos und still, am Krieg teilzunehmen"

Im Bundestag sprach er von seinem Lebensthema, der Belagerung Leningrads, davon, wie Hitler diese Stadt nicht nur einnehmen, nicht nur zerstören, sondern langsam aushungern wollte. "Im Dezember 1941 verhungerten 40 000 Menschen, im Februar bereits 3 500 Menschen täglich." Granin blickt auf drei weiße Blumensträuße, dahinter Angela Merkel (aufmerksam), Joachim Gauck (entsetzt), und im Plenum sehr unterschiedliche Gesichter, neugierige, auch beschämte, die Geschichte der Belagerung Leningrads ist weit weniger bekannt als die Geschichte von Auschwitz oder von Canterbury, ein Volksvertreter gähnt, bestimmt vor Müdigkeit. Der russische Soldat Granin spricht eine klare Sprache, aber er ist auch Schriftsteller, und seiner Rede wohnt eine grausame Poesie inne: "Der Tod begann, wortlos und still, am Krieg teilzunehmen."

"Eine Mutter verliert ihren Sohn, drei Jahre alt", berichtet Granin. Er kennt mehr solche Schicksale, als ihm lieb wäre, für sein dokumentarisches "Blockadebuch" sprach er in den 1970er Jahren mit vielen Überlebenden. "Die Mutter legt die Leiche zwischen die Fenster, es ist Winter, und sie schneidet . . ." - hier wird Granin von einer Mitarbeiterin des Bundestags unterbrochen, sie kommt zum Rednerpult und bietet ihm, auf Russisch flüsternd, einen Stuhl an - "... nein, nein, danke", sagt Granin, er bleibt lieber stehen, "sie schneidet von der Leiche jeden Tag ein Stück ab, um ihrer Tochter etwas zu essen zu geben. Um wenigstens ihre Tochter zu retten."

Granin sagt, er habe damals unter Krieg den Kampf von Soldaten gegen Soldaten verstanden und er habe es "den Deutschen" lange nicht verzeihen können: Dieses "Abwarten der Kapitulation, das Abwarten unseres Hungertodes". Er führt nicht aus, ob und wann er es den Deutschen denn verziehen habe.

In Russland erreichte Granin lange vor seinem Tod den Status eines Unsterblichen, er schrieb fünf Dutzend Bücher, Romane, Erzählungen, Essays, bekleidete einen Haufen Posten in sowjetischen Schriftstellerverbänden, nahm Preise von Apparatschiks entgegen, später von Wladimir Putin und seinen Leuten - und blieb trotzdem eine moralische Autorität für die meisten Russen, unabhängig von ihrer politischen Gesinnung. Granin konnte es sich leisten, gegen die offizielle Historiografie anzuschreiben, zum Beispiel nahm er sich die zweifelhafte Rolle der kommunistischen Führung bei der Verteidigung Leningrads vor und dokumentierte, wie die Kader fürstlich bewirtet wurden, während mindestens eine Million Menschen den Hungertod fanden.

Vor drei Jahren stellte sich Putins Kulturminister Wladimir Medinski die undankbare Aufgabe, diesem Geschichtsbild ein patriotischeres entgegenzusetzen, in dem die Parteikader asketisch lebten und Leningrad heldenhaft verteidigten. Medinski vergaloppierte sich, als er Ganin "Lügen" vorwarf. Nun, nach dem Tod des Schriftstellers, musste der Minister das "Ende einer Epoche" bedauern und einem "ehrlichen Kulturschaffenden" nachtrauern, der "den Interessen des Vaterlandes und seines Volkes gedient" habe.

Wie viel Konformismus verträgt ein Mensch?

Ganin verstand besser als viele Schriftsteller in Russland, wie man unter mächtigen Heuchlern überlebt und produktiv bleibt. Für seine Kritiker ist dieses ausgeprägte Manöververmögen ein Problem, für ihn selbst war es eine aus der Not geborene Tugend. In seinen früheren Büchern wie "Dem Gewitter entgegen" beschrieb er, selbst Ingenieur, den Alltag und die Errungenschaften sowjetischer Ingenieure und Wissenschaftler, schaffte einen literarischen, weitgehend apolitischen Kult der Vernunft, dachte über die Ethik der Wissenschaft nach.

Als der sehr politische Regimekritiker Alexander Solschenizyn ("Der Archipel Gulag"), 1969 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, versuchte Ganin sich bei der Abstimmung im Vorstand zu enthalten, stimmte dann aber unter Druck doch für den Ausschuss Solschenizyns. Vor wenigen Jahren sagte er dazu in einem Interview: "Mein Gewissen ist meine Sache (. . .) Ich sah, dass ich mich selbst zugrunde gerichtet, aber Solschenizyn nicht geholfen hätte - und ich schloss mich an und ich bereue es nicht. Es gibt Situationen, da darf man nicht kuschen, die habe ich für mich festgelegt und mich auch daran gehalten. Aber Heilige gibt es nicht."

In seinen späteren Büchern warf er durchaus moralische Fragen auf: "Namensvetter", 1975: Wie kann man die sowjetische Weltsicht mit wissenschaftlicher Ehrlichkeit vereinbaren? "Das Gemälde", 1980: Wie viel Konformismus verträgt ein Mensch? Die Frage des Konformismus beschäftigte ihn auch in Putins Russland. "Im Krieg machte uns die Propaganda weiß, dass die Oberen dieselben Nöte erleiden wie die Bevölkerung, dass die Partei und das Volk eines seien", sagte er vor drei Jahren. "Ehrlich gesagt, geht das so weiter, die Partei ist nun eine andere, aber es ist dieselbe Art Einheit."

Einige Bücher Granins sind ins Deutsche übersetzt, zum jüngsten, autobiografischen Roman "Mein Leutnant" schrieb Helmut Schmidt im Vorwort: "Frieden ist ein unschätzbares Gut. Das Buch von Daniil Granin erinnert sehr eindringlich daran." Frieden blieb für Granin ein großes Thema. Aber er gehörte zu den Schriftstellern, die sich im hohen Alter nicht wiederholen, sondern erneuern. Er sprach immer mehr vom inneren Frieden, von der Liebe zu seiner Frau, die 2004 starb. Im Bundestag waren seine letzten Worte: "Das Wichtigste ist wahrscheinlich Gerechtigkeit. Und Liebe. Zum Leben, zum Menschen."

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SZ vom 06.07.2017/doer
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