Zum Tod von Christa Wolf:Eine Sozialistin, die im Sozialismus aneckte

Die Schriftstellerin Christa Wolf ist tot. Sie starb am Donnerstag im Alter von 82 Jahren in Berlin, wie der Suhrkamp-Verlag mitteilte. Sie war eine moralische Instanz - und erhielt zahlreiche Literaturpreise. Vor allem aber stand sie wie kaum eine andere Autorin für die deutsche Nachkriegsgeschichte.

Bernd Graff

Christa Wolf war Kassandra, sie war "IM Margarete", sie war die Rednerin des 04. November 1989, sie war die Autorin, die laut einem Verleger-Bonmot "keine Distanz zu ihren Figuren" fand. Sie war Sozialistin, Mitglied der SED und Ausgestoßene, Unterzeichnerin und Redakteurin des in der DDR meistunterzeichneten Aufrufs "Für unser Land" des Jahres 1989. Christa Wolf war eine Schriftstellerin der Tugend und des Gewissens. Eine, die aneckte. Manchmal. Und manchmal, weil sie es wollte.

Thomas-Mann-Preis 2010

Christa Wolf (1929 - 2011).

(Foto: dpa)

Christa Wolf wurde am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe (heute: Gorzow Wielkopolski in Polen) geboren. Ihre Eltern betrieben ein Lebensmittelgeschäft. 1945 musste die Familie vor der anrückenden Roten Armee nach Westen fliehen. Sie kam ins mecklenburgische Gammelin. Früh, 1949, im Jahr ihres Abiturs, wurde Wolf Mitglied der SED, da sie die Ideale der neuen DDR und ihrer Einheits-Partei überzeugten.

Sie studierte Germanistik in Jena und Leipzig. Nach einer Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband, als Cheflektorin des Verlags "Neues Leben" in Berlin und als Redakteurin der Zeitschrift "neue deutsche literatur", ließ sie sich 1962 als freiberufliche Schriftstellerin in Kleinmachnow bei Berlin nieder.

Ihre ersten Bücher waren getragen von großer Euphorie für die neue Gesellschaft in der DDR, für deren Wachstum und Konsolidierung, das sie mit individuellem Erleben verband. Rasch wurde ihr im real existierenden Sozialismus eine Ausnahmestellung eingeräumt. Mitte der 60er Jahre galt sie als "loyale Dissidentin", die das Regime kritisierte, aber den Sozialismus als einzige und bessere Alternative zum kapitalistischen Westen ansah.

Sie wurde indes kritischer, sprach auch die technologische Deformation der DDR-Kultur sowie deren Männerdominanz offen aus. Mit ihrem in den 70er Jahren formulierten Literaturkonzept der "subjektiven Authentizität" brachte sie sich zunehmend in Widerspruch zur offiziellen SED-Doktrin der "objektiven Gesetzmäßigkeiten".

Ein durchschlagender Erfolg wurde ihr Roman über die Problematik des geteilten Deutschlands, "Der geteilte Himmel" aus dem Jahr 1963. In ihm erzählt sie von der Liebe zwischen einer Studentin und einem Chemiker, die im Sommer 1961 an der Teilung Deutschlands scheiterte. Dieses Buch gehörte zu den meistdiskutierten Werken der DDR-Literatur. Es erhielt 1963 den Heinrich-Mann-Preis, wurde 1964 von Konrad Wolf verfilmt und machte die Autorin ab da auch im Westen bekannt.

Endgültig etabliert hat sich Christa Wolf, die 1964 die Bundesrepublik und den Frankfurter Auschwitz-Prozess besucht hatte, im westdeutschen Literaturbetrieb mit der Erzählung "Nachdenken über Christa T." im Jahr 1968, in der sie die Spannung zwischen der historischen Entwicklung der Gesellschaft und dem Anspruch der Protagonistin auf individuelle Entfaltung thematisiert.

Die Erzählung "Kein Ort. Nirgends", die eine Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode imaginiert, sicherte ihr seit 1979 ihren Stammplatz in den bundesdeutschen Feuilletons. Die Erzählung "Kassandra" wurde 1983 zur Bibel der in Kaltkriegen wie heißen Emanzipations-Wehen liegenden linken Intellektuellen-Schickeria der BRD. "Kassandra", die auch vor der DDR-Veröffentlichung in der Bundesrepublik erschien, bemüht sich im Rückgriff auf den griechischen Mythos auf eine Darstellung des Geschlechterkonflikts und thematisiert die Gefährdung des Friedens.

1976 gehörte Wolf zu den Mitunterzeichnern des "offenen Briefs gegen die Ausbürgerung" des Liedermachers Wolf Biermann und wurde mit einer Rüge abgestraft, wohingegen ihr Mann Gerhard aus der SED ausgeschlossen wurde. Nachdem Christa Wolf im Juni 1989 aus der SED ausgetreten war, mischte sie sich im "Wende"-Herbst des Jahres 1989 in die öffentliche Debatte mit der Haltung ein, gemeinsam mit den Bürgerbewegungen "aus dem eigenen Land heraus Veränderungen" zu bewirken.

Sie wurde harsch kritisiert

Aus dem Jahr stammt auch der offene Brief "Für unser Land". Darin trat sie mit Stefan Heym und Friedrich Schorlemmer für die Weiterexistenz der DDR und gegen eine "Vereinnahmung" durch die Bundesrepublik ein. An die Ausreisewilligen wandte sie sich mit der Bitte zu bleiben, um eine "wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten". Nach zahlreichen Stellungnahmen, Reden, offenen Briefen, Lesungen und Interviews zog sich Wolf, angegriffen als "Verfechterin des Sozialismus" und "domestizierte Opponentin" des SED-Staates, von der Tagespolitik zurück.

Einen Literaturstreit entfachte Mitte 1990 ihre (bereits 1979 geschriebene) Erzählung "Was bleibt". In diesem Text mit autobiographischen Zügen schilderte sie die Überwachung durch die Stasi und das daraus resultierende Gefühl der Bedrohung. Vor allem der Zeitpunkt der Veröffentlichung nach dem Zusammenbruch des SED-Staates war Gegenstand harter Kritik, die in eine Diskussion über die Frage nach der Mitschuld von Intellektuellen der DDR mündete.

Der deutsch-deutsche Literaturstreit führte auch zu einer teilweisen Neubewertung der Schriftstellerin und Zeitzeugin, die in der Zeit von 1963 bis 1967 sogar ZK-Kandidatin der SED gewesen war, nach einer kritischen Rede auf dem 11. Plenum (1965) aber aus diesem Gremium 1967 ausgeschlossen wurde. Der insbesondere von westdeutschen Kritikern und Journalisten als "Staatsdichterin" beschimpften Autorin wurde vorgehalten, sich mit "Was bleibt" zu Unrecht auf die Seite der Opfer mogeln zu wollen.

Harsch kritisiert wurde die Schriftstellerin, die sich in der Berliner Zeitung zu ihrer Vergangenheit als "IM Margarete" bekannte, vor allem deshalb, weil sie seit Mai 1992 Kenntnis von ihrer "Täterakte" hatte und dennoch weitere Monate darüber schwieg. Wolf reagierte darauf, indem sie 1993 in einem bis dahin beispiellosen Vorgang ihre Stasi-Akte veröffentlichte ("Akteneinsicht Christa Wolf") und damit Spekulationen beendete. Die harte Auseinandersetzung in der Presse empfand Wolf als ungerechtfertigte Abrechnung mit ihrer DDR-Biographie.

Eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1990-1994 mit dem Titel "Auf dem Weg nach Tabou" legte sie 1994 zur Leipziger Buchmesse vor und gab in dieser sehr persönlichen Chronik in nahezu unverhüllter Intimität Zeugnis von den erlittenen Verletzungen und Wunden. Konrad Franke nannte in der Süddeutschen Zeitung (17.3.1994) "Christa Wolfs Selbsterklärungen ein literarisches Denkmal deutscher Aufrichtigkeit". Andere Kritiker zogen dagegen die biografische Aussagekraft dieses Bandes in Zweifel. Kontrovers diskutiert wurde im Feuilleton auch ihr 1996 erschienener Roman "Medea. Stimmen", in dem sie den antiken Mythos im Sinne ihrer Kritik an der gesellschaftlichen Ausgrenzung des Fremden umformte.

Zu ihrem 70. Geburtstag brachte Wolf den Sammelband "Hierzulande. Andernorts" mit Erzählungen, Erinnerungstexten und Grußadressen aus den Jahren 1994-1998 heraus, in dem sie eine "differenzierte Lebensbilanz" zieht und dabei wegrückt von fast allem, was sie einmal vertrat. Das musste, so die tageszeitung "selbst den Feinden der früheren Verkündigungstonart nur Respekt abnötigen".

Dennoch ließ sie von ihrem Lebensthema nie ab. Die Spannung zwischen einer sozialistisch geprägten gesellschaftlichen und einer selbstbestimmten individuellen Existenz bestimmte auch den 2003 publizierten umfangreichen Band "Ein Tag im Jahr", mit dem Wolf ein wichtiges Dokument zu ihrer Biografie sowie zum Alltag und zur politischen Geschichte der DDR und der Jahre nach der Wiedervereinigung lieferte. 40 Jahre lang, von 1960 bis 2000, hatte sie jeweils am 27. September Ereignisse und Gedanken tagebuchartig festgehalten.

Christa Wolf war die wohl einzige Autorin, deren Werk und Leben unmittelbar mit der DDR verknüpft ist, deren Wirkung aber weit darüber hinaus reicht. Im Osten wie im Westen wurde sie mit Beifall und höchsten Auszeichnungen bedacht. Ihre Romane, Erzählungen und Essays waren stets von ausführlicher Publizität begleitet und wurden in viele Sprachen übersetzt. 2002 wurde sie als bedeutendste zeitgenössische deutsche Schriftstellerin für ihr Lebenswerk mit dem erstmals verliehenen Deutschen Bücherpreis geehrt, weil sie sich, so die Jury, "mutig in die großen Debatten der DDR und des wiedervereinigten Deutschland eingemischt" habe.

Im gleichen Jahr erwarb die Berliner Akademie der Künste das literarische Archiv der Schriftstellerin, das neben Werkmanuskripten und Tagebüchern auch persönliche Korrespondenz mit berühmten Literaten enthält.

Am 1. Dezember 2011 ist Christa Wolf in Berlin gestorben, ihrem Heimatort seit 1976.

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