Wenn man Helmut Jahn traf, selten genug, denn nach seinem Diplom 1965 an der Technischen Universität München ging es für den Sohn eines Nürnberger Lehrers sogleich nach Chicago, trug er meistens einen Hut. Einmal sah man ihn, als er Ende der Neunzigerjahre in München das von seinem Büro entworfene MAC, das Munich Airport Center, eröffnete. Vor einigen Jahren dann, er war inzwischen 75, traf man ihn in Berlin. Er war Gast auf Schloss Bellevue. Natürlich mit Hut. Soweit man sich erinnert. Vielleicht täuscht man sich, aber wenn man die Augen schließt und an Helmut Jahn denkt, dann denkt man an ein charismatisches Gesicht und einen Hut. Und an neugierige und wache Augen.
Der Hut war ein kleiner und eigentlich hochsympathischer Spleen des deutschen Architekten, der aus Zirndorf kam, wo er zur Schule ging - aber in der Welt zum Stararchitekten wurde. Häuser, sagte er einmal, haben im Idealfall ein Unten und eine Mitte und ein Oben. Menschen auch. Nur dass wir keine Dächer, sondern, im Idealfall, Hüte tragen. Architekturen, das war wichtig für den Architekten Jahn, müssten sich "sehen lassen können". Im Wortsinn aber auch: deuten. Lesen. Jahn war ein kluger und hochgebildeter Architekt.
Nun wünscht man sich, er hätte irgendeinen erdbebenfesten Schutzhut aus Stahlbeton aufgehabt, am besten eine ganze Rüstung, während seiner samstäglichen und schrecklicherweise tödlichen Radtour in Campton Hills. Das ist ein fast beschauliches Dorf in Kane County, Illinois, also ein westlich von Chicago gelegener Vorort der Hochhausmetropole am Lake Michigan. Dass der Franke und Wahl-Amerikaner, unweit der Stadt Chicago, in der einst die Wolkenkratzer miterfunden und auch von Jahn in die Gegenwart der Baukunst transferiert wurden, so dass man den Architekten seiner Vorliebe für die amerikanische Vertikale wegen "Turmvater Jahn" nannte, in einer geduckten Kleinstadt lebte - das kann man sich gleich mal merken.
Der amerikanischste aller Architekten blieb immer Europäer
Jahn als Architekt: Das ist eine vielschichtigere und komplexere, auch widersprüchlichere und letztlich reichere Geschichte, als es oft den Anschein hat. Der schreckliche Tod auf dem Fahrrad in den USA, dem Autoland, in dem manchmal die Polizei Fahrradfahrer und Fußgänger stoppt, um irritiert nach dem Rechten zu fragen: In gewisser Weise war der manchmal amerikanischste aller amerikanischen Architekten bis zuletzt auch der Europäer, der er im Herzen immer blieb. Wie er auch seine fränkische Heimat nie verleugnete.
Jedenfalls gibt es auch in Kleinstädten gefährliche Straßenkreuzungen. An einer solchen Kreuzung, so die Chicago Tribune, die sich auf die Polizei in Campton Hills beruft, starb der 81-jährige Jahn. Es war die Kreuzung Old Lafox Road, Ecke Burlington. Zuvor, dafür soll es etliche Zeugen geben, brachte er sein Fahrrad trotz Stoppschilds aus bisher unbekannten Gründen nicht zum Stillstand. Er wurde von zwei Autos erfasst und erlag noch am Unfallort seinen Verletzungen. Es ist ein trauriger, gewaltsamer und furchtbarer Tod. Und es tröstet wenig, dass Jahn wie Antoni Gaudí, den er sehr verehrte, bei einem Verkehrsunfall zu Tode kam. Gaudí, der Architekt der weltwunderlich eigensinnigen Sagrada Família, wurde einst von einer Straßenbahn überfahren. Aber das eigentliche Vorbild von Jahn war Ludwig Mies van der Rohe.
Den hatte er 1966 in Chicago kennengelernt. Im Frühwerk von Jahn sind die Anklänge an die reduzierte Less-is-more-Philosophie der Nachkriegsmoderne wie mit Händen zu greifen. Doch - und das ist keine kleine Leistung für den ehemaligen Mies-Apologeten Jahn: Er ist aus dem übergroßen Schatten herausgetreten und hat die Moderne postmodern neu interpretiert. Das ist nicht immer so ganz gelungen - und die Kritik ist oft wenig nachsichtig mit einem der wenigen deutschen Architekten umgegangen, der es zu Weltruhm brachte. Für den Autor hier gilt das auch. Das Sony Center in Berlin, die wie eine gläserne Titanic auf den Ku'damm ebendort zusteuernde Glas-Glas-Glas-und-Glas-Fassade am neuen Kranzler-Eck, der Big Mac im Moos am Münchner Flughafen oder der Post-Tower in Bonn: Das sind hierzulande vermutlich die bekanntesten Entwürfe des Büros Murphy/Jahn (heute: Jahn).
International ist Jahns Name mit zahlreichen anderen Großprojekten verbunden. Er arbeitete unter anderem am McCormick Place in Chicago und dem J. Edgar Hoover Building, der Zentrale des FBIs. Eines seiner Werke, das die Kritiker entzweit hat, ist das 1985 eröffnete James R. Thompson Center. Das 17-geschossige Gebäude, es dient der Regierung, lässt sich nach Angaben der Regierung nicht effizient betreiben. In den Achtzigerjahren war die Ökologie der Architektur noch sehr fern. Das betraf Jahn nicht allein. Er ist da in guter Gesellschaft.
Später aber hat Jahn durchaus aus der Postmoderne, die er mit Hightech fusionierte, in die Gegenwart einer ökologischen Architekturdebatte gefunden. Dass er sich immer wieder häutete, ist für diesen Architekten nicht untypisch. Und darin bestand auch seine Kunst: Er baute immer in der Zeit. Im Gespräch berichtete er einmal über zwei Dinge, die ihn umtrieben: die Hässlichkeit der Städte und die Banalität ihrer Bauten zum einen. Und dass die Architektur nicht nur schön, sondern auch zukunftsfähig sein müsse, zum anderen. Jahn war immer interessiert. Immer unterwegs. Zuletzt gern mit dem Rad - das wurde ihm zum Verhängnis und die Welt trauert nun um einen Architekten von Rang. Tröstlich allein: Die Bauten bleiben.