Zum Tod des Architekten Frei Otto:Luftschlösser für eine bessere Welt

Architekt Frei Otto gestorben

Frei Otto führt im Jahr 2005 im Architekturmuseum in der Pinakothek der Moderne in München durch eine ihm gewidmete Ausstellung. Nun ist der große Architekt gestorben.

(Foto: dpa)

Frei Otto, ein Visionär, der sich nicht für Ruhm, sondern für das Ausprobieren, das Wagen interessierte. Seine Dächer sind das Gegenteil von Deckeln. Dass Bauen eine zutiefst menschliche Sehnsucht ist, davon war der Architekt überzeugt.

Von Gerhard Matzig

Wenn man zu Besuch war bei Frei Otto, in seinem Haus in Warmbronn bei Leonberg, dann wurde nicht nur das Atelier präsentiert, in dem er noch bis zu seinem Tod am Montag als Architekt und Ingenieur an der Verbesserung der Welt arbeitete. Und zwar zusammen mit Frau und Tochter. Nein, wenn man richtig Glück hatte, dann bekam man auch die "Rumpelkammer" zu sehen. So bezeichnete es Frei Otto selbst. Dabei ist oder war das keine Rumpelkammer, sondern: Utopia.

Utopia ist eine Art Garage, zur Miete. Unweit des Hauses. Vollgepackt mit allerlei Modellen aus gelblich verblichener Finnpappe, voll mit Drahtkonstruktionen oder Schnurgespinsten. Auch Damenstrümpfe sind zu sehen. Für sein wichtigstes und berühmtestes Werk, für sein entscheidendes Mittun an den zeichenhaften Filigran-Bauten und ingeniösen Zeltdachkonstruktionen des Münchner Olympia-Areals für die Spiele von 1972, waren Damenstrümpfe existenziell wichtig.

Das waren, wie man inzwischen weiß, die Strümpfe von Fritz Auers Ehefrau - und Fritz Auer war Partner von Günter Behnisch. Das Modell, das zur Verblüffung der gesamten Fachwelt Ende der 1960er-Jahre den Sieg davontrug zugunsten von Günter Behnisch und Partnern, im Wettbewerb um die modernsten Olympischen Spiele der Neuzeit, dieses Modell illustrierte die neue deutsche Leichtigkeit und Schwerelosigkeit als Fanal gegen die steinernen Spiele von Berlin, 1936, mit Strümpfen! Nur bauen konnte das keiner. Deshalb bat Behnisch Frei Otto (und schließlich noch Jörg Schlaich) um Hilfe. Otto half. Und zwar ohne Hochleistungsrechner und Architekten-Software.

Olympiastadion München

Die lange als unbaubar bezeichnete Zeltdachkonstruktion über dem Münchner Olympiastadion

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Keiner konnte sich mehr für das Beschirmen begeistern als Otto

Er berechnete die Statik zusammen mit Schlaich: Die Münchner Zeltdachkonstruktion, sie galt lange als unbaubar, wurde gebaut. Heute zählt das Dach zu den Weltwundern der Gegenwart. Ein kleines Utopia, ein Entwurf für eine Welt, wie sie sein sollte: frei, schön, leicht, elegant - und demokratisch. Einige der Modelle, mit denen Frei Otto arbeitete, um ein solches Utopia Wirklichkeit werden zu lassen, lagerten lange in der Warmbronner Rumpelkammer. Neben unzähligen anderen Dach-Entwürfen. Es gab wohl nie einen Architekten, der sich mehr für das Beschirmen und Behüten, das architektonische Bedecken begeistern konnte als Frei Otto. Otto war einer, der den Menschen Dächer schenkte, die das Gegenteil waren von Deckeln.

Zum Tod des Architekten Frei Otto: Den Tanzbrunnen im Kölner Rheinpark überdachte Frei Otto - mit einem Sternwellenzelt.

Den Tanzbrunnen im Kölner Rheinpark überdachte Frei Otto - mit einem Sternwellenzelt.

(Foto: imago stock&people)

Frei Otto interessierte sich nicht für Ruhm oder für die Präsentation seiner Arbeiten, er interessierte sich vor allem für Versuch und Irrtum, für das Ausprobieren, Tüfteln, Wagen. Für das Experiment. Ihn interessierte das Denken mehr als das Machen. Einmal sagte er, ganz ohne Bedauern, er habe nur wenig gebaut in seinem Leben. Und das Wenige bestehe zumeist aus "Luftschlössern".

Umso denkwürdiger ist es, dass er, wie nun auch noch bekannt wurde, soeben für sein Lebenswerk mit dem wichtigsten Preis der Architektur ausgezeichnet wird. Den Pritzker-Preis erhält Frei Otto, so die Jury, als "Visionär und Utopist". Und genau deshalb ist er auch so bedeutsam in der Baugeschichte. Natürlich gibt es auch etliche Bauten und Projekte von ihm, abseits des Münchner Zeltdaches, mit denen er sich längst eingeschrieben hat in die Geschichte des Bauens.

Für den Tierpark Hellabrunn und für "Pink Floyd"

Zu nennen ist etwa das Vierpunktsegel für einen Musikpavillon zur Bundesgartenschau in Kassel, Mitte der 1950er-Jahre. Oder, in den Sechzigerjahren, die St.-Lukas-Kirche in Bremen (mit Carsten Schröck); dann natürlich der deutsche Pavillon zur Weltausstellung in Montreal, 1967: Das war sozusagen der Erstversuch mit größeren Zeltdächern - und maßgeblich, ja vorbildlich für den Behnisch-Entwurf.

Zum Tod des Architekten Frei Otto: Die St.-Lukas-Kirche in Bremen entwarf Frei Otto in den Sechzigern zusammen mit Carsten Schröck.

Die St.-Lukas-Kirche in Bremen entwarf Frei Otto in den Sechzigern zusammen mit Carsten Schröck.

(Foto: Roland Kutzki / CC-by-sa-3.0)

Man müsste auch die Großvoliere im Münchner Tierpark Hellabrunn nennen: Hier zeigt sich das Federleichte, Natürliche, Unangestrengte der Formfindungen Ottos in Reinform. Gebaut hat er allerdings auch handfeste Häuser, etwa 1985 das Behörden- und Kulturzentrum in Riad.

Kaum bekannt, dabei kaum weniger interessant, ist das, was er mit oder für "Pink Floyd" realisiert hat. Das war Ende der 1970er-Jahre. Die Band wünschte sich ein ungewöhnliches Bühnendach für die bevorstehende USA-Tournee. Irgendwie landete der Auftrag bei Frei Otto. Der dachte sich ausfahrbare, dabei aber gewaltig große Schirme aus. Roger Waters, Nick Mason und Rick Wright, ehemalige Architekturstudenten allesamt, waren begeistert. Frei Ottos Schirme wurden zur bestimmenden Bühnen-Architektur. Auch eine Schrift hat Otto erfunden, eine Typographie, die er "Warmbronn" nannte nach seinem Refugium in Schwaben.

Ingenieure aus aller Welt pilgerten zu Otto nach Stuttgart

Dort, an der Universität Stuttgart, gründete der Mann, dessen Vater und Großvater Bildhauer waren, 1964 den ersten technoiden Thinktank Deutschlands: das "Institut für Leichte Flächentragwerke". Es hatte und hat: Weltruf. Ingenieure aus aller Welt pilgerten nach Deutschland, um an Frei Ottos Vorlesungen teilnehmen zu dürfen.

Es gab nichts, was Frei Otto nicht interessant fand. Nichts, was ihn nicht neugierig machte. Er sagte einmal seinen Studenten, dass es seiner festen Überzeugung nach ein "Bau-Gen" gäbe. Der Mensch müsste auch dann bauen, wenn er gar keinen Grund hätte, etwas zu bauen. Das Bauen sei ihm eigen, das Bauen sei etwas zutiefst Menschliches. Eine Sehnsucht.

Die aber könne - und das ist entscheidend - nur ausgelebt werden im Einklang mit der Natur. Frei Otto, der Ingenieur, der sich lange vor dem Boom des Biomorphismus und des eher formal-modischen Dynamismus etwa von Zaha Hadid mit den Gesetzmäßigkeiten des natürlichen Bauens auseinandersetzte und beispielsweise die Genialität von Spinnengewebe studierte oder, das Münchner Zeltdach ist ein Beispiel dafür, mit Drahtgestellen und Seifenlauge experimentierte. Das "organische Bauen" wurde maßgeblich von Frei Otto in Nachfolge von Antoni Gaudí bis hin zu Richard Buckminster Fuller definiert.

Er hatte beide: das Bau-Gen und das Gen für die Verantwortlichkeit

Wie wenig aber der Utopist Frei Otto von Utopien ohne Menschlichkeit hielt, das zeigte sich zuletzt, als er nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center bescheiden vorschlug, auf dem Areal "gar nichts zu bauen und nur Gras wachsen zu lassen". Eine derartige Nachdenklichkeit wünschte man sich heute: ein Nichts, das dem Alles entgegenstünde.

Das Bau-Gen ist somit das eine, das Gen für die Verantwortlichkeit des Menschen in seiner Zeit das andere. Frei Otto hatte beides - und die geistige Freiheit und Größe, beides nicht als Paradoxon, sondern als Einheit zu denken. Sein ungewöhnlicher Vorname, der oft zu Verwirrungen führt, weil manche denken, es müsste doch eigentlich Otto Frei und nicht Frei Otto heißen, ist tatsächlich ein Hinweis auf die Freiheit des Denkens. Frei Otto war in diesem Sinn viel mehr als ein Pionier der Technik und Konstruktion, mehr auch als ein Architekt und Ingenieur: Er war der Planer einer besseren Welt.

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