Zum Siegeszug der Grünen:Das falsche Leben im wahren

Wer der Erprobung grüner Lebensstile Heuchelei vorwirft, verkennt die Spielräume grüner Politik. Es gibt konkrete Handlungsmöglichkeiten - auch ohne die Totalrevolution mit radikalem Konsumverbot.

Tanja Busse

"Ach, du bist mit dem Auto?", fragt mich der Kollege, den ich in der S-Bahn getroffen habe, und lächelt spöttisch. Und es gibt Grund für Spott, denn er kennt mich als grüne Missionarin und Auto-Verächterin und weiß, dass unser Haus keine zwei Kilometer vom S-Bahnhof entfernt ist. "Ja, äh, ich muss noch ...", stottere ich, als ich ins Auto steige. Aber ich muss wirklich: Schnell hin, schnell zurück und noch mit den Kindern und abends - und alles in Eile.

Massentierhaltung Hühner

Deutschland exportiert gefrorene Geflügelreste in afrikanische Länder ohne geschlossene Kühlkette. Diese Exporte rechnen sich nur, weil das Hochlohnland Deutschland billig mästet und schlachtet - unter gesetzlichen Standards, die nicht nur Tierschützer als Hohn empfinden.

(Foto: dpa)

Als "Stunde der Heuchler" hat Johan Schloemann den Triumph der Grünen bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg bezeichnet und kritisiert, dass "die wohlhabenderen, gebildeteren, liberaleren Kreise sich im Kleinen bemühen, alles ein ganz bisschen sauberer und richtiger zu machen und zugleich die großen Strukturfragen zur Gewissensentlastung an die Partei der Grünen delegieren". Als Inbegriff der Heuchelei nennt er die Leute, die mit dem Porsche Cayenne zum Altglascontainer fahren. Vermutlich gehören auch solche wie ich dazu, die das Auto nehmen, um zur S-Bahn zu kommen.

Natürlich hat Schloemann recht: Der grüne Lifestyle eignet sich hervorragend zur sozialen Distinktion und wird vor allem dann zelebriert, wenn er nicht mit Einschränkungen verbunden ist. Wer Bio-Wein aus Apulien kauft, zeigt, dass er Aldi nicht nötig hat, rettet aber damit nicht die Welt vor dem ressourcenfressenden und umweltvernichtenden Kapitalismus.

Doch den Grünwählern pauschal die Widersprüche eines versuchten nachhaltigen Lebensstils zum Vorwurf zu machen, und all denen, die es ein bisschen besser machen wollen, vorzuhalten, dass sie nicht die fertigen Pläne für die Weltrevolution in der Tasche haben, ist unfair.

Denn es sind vor allem die Grünwähler, die die Notwendigkeit eines Politikwechsels erkennen, während in anderen Milieus immer noch die naive Vorstellung vorherrscht, Wirtschaftswachstum werde weiter Wohlstand bringen und neue technologische Lösungen würden die drohenden Knappheiten schon rechtzeitig beseitigen.

Das aber ist nicht heuchlerisch, sondern ignorant. Und alle, die so denken, freuen sich, wenn die grünen Fortschrittsmiesmacher argumentativ eins übergebraten bekommen. Das macht es für sie nämlich umso leichter, zur Gewissensentlastung Adorno aus der Tasche zu ziehen: Es gibt kein wahres Leben im falschen - also lassen wir's gleich. Dieser Fatalismus spielt denjenigen in die Hände, die aus ökonomischen Gründen kein Interesse an einer Ökologisierung haben. Statt die Grünwähler für mangelnde Konsequenz zu schelten, sollte man sie im Gegenteil ermuntern.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, welche konkreten Vorschläge zur Verbesserung der Nachhaltigkeit es gibt - und was eine grüne Politik ändern könnte.

Das große grüne Projekt

Denn erstens scheitert ihr Versuch, grün zu leben, nicht nur an mangelnder persönlicher Konsequenz, sondern auch an den politischen Grundsatzentscheidungen für die bedingungslose Automobilität der Gesellschaft und für das quantitative Wirtschaftswachstum als Allheilmittel. Wer sich jemals mit Kleinkindern auf dem Fahrradsitz in den Straßenverkehr gewagt hat, weiß, dass es auch jenseits von Faulheit Gründe zum Autofahren gibt. Und wer Bekannte auf dem Land zwischen Pömpsen und Sommersell besucht, versteht, warum dort alle Achtzehnjährigen ein Auto bekommen: weil es dort keinen öffentlichen Personennahverkehr gibt. Wer Kinder, Beruf und Haushalt unter einen Hut zu bringen versucht, kennt die Dauerhetze und den Druck, schnell und mobil zu sein.

Zweitens lenkt der Vorwurf der Heuchelei davon ab, dass es sehr wohl Spielraum für eine grünere Politik gibt, auch ohne die Totalrevolution mit radikalem Konsumverbot. Es gibt Alternativen zur sofortigen Schließung der Auto- und Chemiefabriken, wie sie Johan Schloemann als einzig konsequente Folge der Wahlergebnisse in Baden-Württemberg vorschlägt.

Zum Beispiel in der Chemieindustrie: Das Cradle-to-cradle-Prinzip, das der Verfahrenstechniker Michael Braungart entwickelt hat, verlangt einen konsequenten Stoffkreislauf sämtlicher Materialien: Jeder Stoff, der verbaut wird, muss entweder kompostierbar oder komplett wiederverwendbar sein.

Wohin mit dem Müll?

Würde dieses Prinzip ("von der Wiege zur Wiege") gesetzlich vorgeschrieben, müssten alle Produkte so konstruiert werden, dass ihre Bauteile nicht auf der Müllkippe landen, sondern als Einzelkomponenten neu wiederverbaut werden. Bis heute ist es zulässig, gefährliche Chemikalien einzusetzen - sogar dann, wenn es unbedenkliche Alternativen gibt. Diese Praxis ermöglicht es Unternehmen, Gewinne zu machen und einen Teil der Kosten, nämlich für die Beseitigung der Umwelt- und Gesundheitsschäden, den Steuerzahlern aufzubürden.

Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu verhindern: Entweder kann der Gesetzgeber die sogenannten externen Kosten internalisieren, also die Verursacher für Umwelt- und Gesundheitsschäden zahlen lassen, oder er kann gefährliche Stoffe schlicht verbieten. Seit Jahren sammelt das Umweltbundesamt sogenannte Best-Practice-Verfahren, Beispiele für die umweltverträglichste Art, etwas zu produzieren oder mit Abfällen umzugehen.

Ein anderes Beispiel: Eine simple Verpflichtung zu höheren Tierschutzstandards in der Landwirtschaft könnte weitreichende positive Wirkungen haben. Deutschland exportiert gefrorene Geflügelreste in afrikanische Länder ohne geschlossene Kühlkette, mit erheblichen gesundheitlichen Risiken für die Konsumenten. Entwicklungsorganisationen wie der Evangelische Entwicklungsdienst weisen seit Jahren darauf hin, dass diese Billigexporte die afrikanischen Geflügelhalter in den Ruin getrieben haben. Diese Exporte rechnen sich nur, weil das Hochlohnland Deutschland billig mästet und schlachtet - unter gesetzlichen Standards, die nicht nur Tierschützer als Hohn empfinden.

Die Tierschutzverbände aber haben keine Möglichkeit, dagegen zu klagen, wohl aber die Länder. Das grün regierte Baden-Württemberg könnte also eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht gegen Missstände in der Massentierhaltung einreichen. Fleisch würde damit teurer, keine Frage. Aber höhere Standards in der Tierhaltung böten Marktchancen für alle Bauern, die unter Tiermast etwas anderes verstehen als Agrarindustrie.

Mit Rückendeckung der grünen Bürger ließe sich Landwirtschaft mit Tierschutz, Klimazielen, gesunder Ernährung, Bildung und Erholung zu einem großen grünen Projekt machen. Als Modellversuche haben einzelne Bürger das längst ausprobiert: interkulturelle Allmendegärten, gemeinschaftliche finanzierte Bauernhöfe. Mit politischer Unterstützung könnte man damit Strukturen verändern, von innen dauerhaft begrünen sozusagen. Das wäre ein aufrichtiger Erfolg für das neue grüne Bürgertum.

Tanja Busse, geboren 1970, arbeitet als Journalistin für den WDR und die ZEIT. Ihr Buch "Die Ernährungsdiktatur. Warum wir nicht länger essen dürfen, was uns die Industrie auftischt" erschien 2010.

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