Süddeutsche Zeitung

Zum geistigen Eigentum:Fremdzündung

Das gestohlene Fahrrad fehlt dem Besitzer, geistige Inhalte sind nicht weg, wenn sie erschlichen wurden. Geistige Inhalte sind öffentlich, die falsche Rede vom Diebstahl muss aufhören.

M. Hutter

Hat die Schriftstellerin, die zitiert, ohne die Quelle zu nennen, "geklaut"? Ist der Schüler, der einen Film herunterlädt, ein Dieb? Ich schlage vor, mit der Schauermär vom geistigen Diebstahl aufzuhören. Geist wird nicht gestohlen. Geist wird schlimmstenfalls erschlichen - so, wie man in ein Konzertzelt schleicht und mithört, ohne dafür bezahlt zu haben.

Geist ist wie ein Gas

Der Dieb stiehlt Sachen. Das gestohlene Fahrrad ist weg, es ist nicht mehr an seinem Platz, es fehlt seinem Besitzer. Geistige Inhalte - Geschichten, Lieder, Bilder in allen möglichen Kombinationen - sind nicht weg, wenn sie erschlichen worden sind. Die Bilder und die Bücher sind noch an ihrem Platz, und die Spiele-Software läuft auf der ersten Kopie so gut wie auf allen weiteren Kopien. Geistige Inhalte sind öffentliche Güter, das heißt, sie können von vielen gleichzeitig genutzt und sie können leicht erschlichen werden. Darin liegt ein Problem. Aber dieses Problem lässt sich erst lösen, wenn die falsche Rede vom Diebstahl einer Sache aufhört.

Geist ist flüchtig. Geist ist wie ein Gas, das sich unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen verdichtet und entzündet. Eine neue Form, ein eigenständiges "Werk" entsteht. Dieses Werk beginnt nun, in der Bewusstseinswelt vieler Menschen zu zünden - eine Erregung wird ausgelöst, die anschwillt, unterschiedlich lange anhält und dann wieder erstirbt. In Romanen und Filmen wird Spannung aufgebaut, um die Erregung zu steigern, in Musiktheatern werden alle Sinne gleichzeitig in Erregung versetzt, und in Videospielen entlädt sich die Erregung im Mündungsfeuer.

Alle Produkte der Kreativindustrien, von der Hochkultur über die Unterhaltungsbranchen bis zur Werbebotschaft, funktionieren nach diesem Prinzip. Sie machen nicht irgendetwas mit dem Verwender - so, wie der Hammer ihn stärker und das Fahrrad ihn schneller macht -, sondern sie machen etwas in der Verwenderin - sie lösen, wie durch eine Art Code, in ihrem Geist etwas aus, das sie begehrt.

So wird das Erschleichen zum Normalzustand

Um die eigene Zündung auszulösen, muss jeder selbst in die Atmosphären eintauchen, in denen begabte und geübte Virtuosen ihre Geistprodukte aufführen. Seit etwa 100 Jahren gelingt dies nicht nur durch Bücher. Bis heute werden die "Inhalte" tatsächlich in richtigen "Behältern", in Büchern und Disketten, befördert. Die Behälter werden zunehmend überflüssig, weil die Codes der geistigen Erregung in Computercodes transformiert werden können. Jetzt sind die Verwender dauernd in der Atmosphäre kreativer Neuheiten. Sie können die neuen geistigen Inhalte und das Zünden in ihrem Inneren kaum vermeiden, sie kopieren, laden herunter, eignen sich an, und so wird das Erschleichen zum Normalzustand.

So entsteht der eigentliche moralische Notstand, in dem sich die Verwender der ständig neuen geistigen Inhalte - also wir alle - befinden: Wir wissen, dass wir an kreativen Leistungen partizipieren, die wir schätzen, aber wir sehen keinen angemessenen Weg, um unsere Wertschätzung auszudrücken - schon gar nicht durch Zahlung der Preise, die die Verwerter für den Zugang fordern.

Wenn Geist in verdichteten Atmosphären zündet, dann braucht er dafür individuelle schöpferische Leistungen, die die ersten Funken sprühen lassen. Martin Walser hat von "brennenden Streichhölzern" gesprochen, die er aus dem Fenster wirft. Menschen, die von ihrer Kreativität leben, schaffen sich selbst die dafür notwendigen Atmosphären.

Sie erschleichen sich in Freundeskreisen, Szenen und Festivals ihre eigenen Zündungen und geben dafür neue geistige Inhalte zurück. Diejenigen, die nur über die Wiedergabe der Aufnahmen partizipieren, können nichts zurückgeben außer ihrer Begeisterung. Auch die Begeisterung ist wertvoll, denn über sie verbreitet sich das Wissen über besonders wirkungsvolle Neuheiten wie ein Lauffeuer durch eine der Unterhaltungswelten.

Die Welt der Behälter

Aber die Begeisterung reicht nicht, um das Feuer am Brennen, also die Musik-, Text- und Bildmacher am Zündeln zu halten. Die Verwender brauchen Formen der angemessenen Vergütung für die Urheber - aber nicht für die Verwerter, also diejenigen, die sich die Zugangsrechte zu den Werken angeeignet haben. Die Verwerter operieren weiter in der Welt der Behälter, die gestohlen werden können, und deshalb haben sie ein vitales Interesse daran, der fahrradfahrenden Bevölkerung und den eigentumsverpflichteten politischen Entscheidungsträgern einzubimsen, dass das Erschleichen einer Zündung nichts anderes sei als der Diebstahl einer Sache. Dabei warnen Beobachter aus der Wissenschaft, etwa Reto Hilti vom Max-Planck-Institut für Urheberrecht, den Eigentumsschutz für Urheberrechte nicht noch weiter zu erhöhen.

In der Welt der vernetzten Inhalte werden die Verwerter eine geringere Rolle spielen. Vergütungen werden direkt zu den Urhebern fließen, ohne den Umweg über Abgaben, die von Verwertergesellschaften wie der GEMA oder der VG Wort kontrolliert werden. Diese monopolgleichen Vereine gehören noch zu einer Welt, in der Transferzahlungen an Rechteinhaber bürokratisch administriert werden mussten.

Ein gemeinsames Grundverständnis wäre hilfreich

Die technischen Lösungen für direkte Mikro-Zahlungen sind noch im Entstehen, und im Entstehen ist auch eine ethische Vorstellung von Fairness unter den Verwendern. Das Problem der Regelung des Zugriffs auf geistige Inhalte wird noch lange nicht als gelöst gelten, dafür sind die notwendigen Veränderungen zu weitreichend. Aber weil dabei kollektive Entscheidungen insbesondere in der Rechtsgestaltung eine Rolle spielen, ist ein gemeinsames Grundverständnis des Problemzusammenhangs hilfreich. Da wäre die Rede von der erschlichenen Zündung anstatt der vom gestohlenen Fahrrad ein Fortschritt.

Der Autor ist Professor an der Technischen Universität Berlin und Direktor der Abteilung "Kulturelle Quellen von Neuheit" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

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Quelle:
SZ vom 26.3.2010/kar
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