Zum 100. Geburtstag:Von der Größe des Tierstimmenimitators

Gutmütig sah er nur auf den ersten Blick aus: Die Kraft seines Witzes war tödlich und seine Gegenwart erzwang Respekt. Heute vor 100 Jahren wurde Elias Canetti im bulgarischen Rustschuk geboren.

Von Burkhard Müller

"Wer vom Tod besessen ist, wird durch ihn schuldig." Wenn ein Satz das Werk von Elias Canetti zusammenfasst, dann dieser, der sich in dem Aphorismenband "Das Geheimherz der Uhr" findet.

Elias Canetti in Wien

Elias Canettia als junger Schriftsteller in Wien.

(Foto: Foto: dpa)

Es gibt keinen anderen Autor, der den Unwillen, welcher doch allen Menschen gemeinsam ist, gegen den Tod mit solcher Hartnäckigkeit zu seinem ausschließlichen Beruf gemacht hat. Niemand soll sterben müssen: Dies, und immer wieder dies, hat Canetti sein ganzes Schriftstellerleben hindurch tausendmal in kaum veränderter Form (denn was gäbe es hier zu ändern?) vorgebracht, mit niemals vermindertem Zorn auf etwas, das man ein Wesen doch kaum nennen kann.

Aber der Preis, den er für sein kostbarstes Besitztum, diesen Hass, hat zahlen müssen, war hoch. Er besteht darin, dass er vom Gehassten nicht loskommt und ihm getreu wie ein Schatten folgen muss. Umso dunkler und schärfer fällt er, je schöner die Sonne scheint.

Canettis oêuvre ist, als dieser Schatten, ausdehnungsgleich dem Umriss des Todes. Wer es aushalten will, braucht Kraft. Schon Canettis erstes Buch, "Die Blendung", das er mit dreiundzwanzig Jahren schrieb, stellt ein furchtbares Exerzitium zum Thema des lebendigen Tods dar. Bis zu welchem Grad von Leichenstarre kann es ein Mensch maximal bringen, der noch atmet und dessen Herz schlägt?

Der Untersuchung dieser Frage gelten die Figurenentwürfe des Sinologen Kien, mit seiner riesigen fensterlosen Privatbibliothek, und dessen Haushälterin Therese. Er ehelicht sie, nachdem er mit unaussprechlicher Rührung gesehen hat, wie sie, um das geringste seiner Bücher zu lesen, sich extra ein Paar Handschuhe gekauft hat. Es war ein gemeiner Trick von ihr; und es wird daraus die bestimmt grauenhafteste Ehe der Weltliteratur.

Die schönen Akten

Gibt es solche Menschen? Ihnen immer wieder zu begegnen, darin besteht Canettis Begabung, um die man ihn kaum beneidet. Seine Epiphanie erlebt er beim Brand des Wiener Justizpalastes im Jahr 1927.

Was sich ihm einprägt, ist nicht so sehr das Massaker, das die Polizei unter der Arbeiterschaft anrichtet, sondern ein einzelner Beamter, der kopflos vor den Flammen umherirrt und jammert: "Die schönen Akten! Die schönen Akten!" Er wird zum Kristallisationskern des Kien, dessen Name das tote Holz bedeutet, doch auch die rasende Wut des Feuers aufruft, die darin schlummert.

Von der Größe des Tierstimmenimitators

Jeder Mensch, so lautet das Credo Canettis, lässt sich auf seine akustische Maske reduzieren. Man glaube doch nicht, dass die Sprache dazu dient, sich einander mitzuteilen; sie ist reines Lautgebilde, befangen im unbewussten Ausdruck. Jedem Menschen diese seine Lautgebärde abzulauschen, hat sich Canetti zur Aufgabe gesetzt.

Er ist ein inbrünstiger Zuhörer; aber die ihm ihr Herz ausschütten, täuschen sich in ihm: Als ein Vampir saugt er, ohne dem Gesagten Beachtung zu schenken, das charakteristische Geräusch tief in sich hinein, um es seinem Vorrat einzuverleiben.

Als ein Drama wird man sein Stück "Hochzeit" nur dann bezeichnen können, wenn man von Bühnenfiguren vor allem Deutlichkeit der Kontur verlangt. Es ist ein Besuch im Zoo, dessen Insassen, so verschieden sie sein mögen, alle von zwei Stacheln angetrieben werden, der Habgier und der Gier nach Sex.

Jeder für sich will das Haus der alten Gilz, und alle zusammen verbindet die Geilheit, die sie in wechselnder Paarung austoben; sie erscheint als ein ebenso abstoßendes Laster wie die peinigende Asexualität Kiens und Thereses. Die triumphierende Behauptung, so, genau so sei es, macht den Gehalt des Stücks aus. Emblematisches Zentrum der Menagerie ist der Papagei der alten Gilz, der, so oft die Erbschleicher ihr Lieblingsthema anschneiden, losplärrt: "Haus - Haus - Haus!" Die Gilz steckt ihm dann den Finger in den Schnabel und sagt, mit der hämischen Zähigkeit, auf die ihr Autor sie als ihren einzigen Zug festlegt: "I leb alleweil no."

Nichts weiter als ein Tierstimmenimitator sei er, rief der empörte Franz Werfel, als Canetti aus seinem zweiten Drama "Komödie der Eitelkeit" vorlas; und Canetti, der es berichtet, fügt hinzu: Werfel wusste gar nicht, was für ein Kompliment er ihm damit gemacht habe! Gleichwohl übt er seine Rache an Werfel wie an ungezählten anderen Zelebritäten, die ihm über den Weg laufen.

Ungemein plastisch entwirft er dessen Vollrelief: "Es war merkwürdig, Werfel bloß sitzen zu sehen, ohne dass er etwas Besonderes dabei tat. Man war es gewöhnt, ihn verkünden oder singen zu hören, wobei eines leicht ins andre überging. (. . .) Er schwappte über von Gefühl, es gluckste in ihm, dick wie er war, von Liebe und Gefühl, kleine Teiche davon erwartete man auf dem Boden um ihn zu finden und war beinahe enttäuscht zu sehen, dass es um ihn so trocken blieb wie um andere."

Von der Größe des Tierstimmenimitators

Die tötende Kraft des Witzes, die er hier an seinen literarischen Antipoden wendet, lässt leicht vergessen, ein wie vollkommen humorloser Autor Elias Canetti ist. Solche Unerbittlichkeit hat er sich in einer langen, gründlichen Schule angeeignet. Sieben Jahre lang hing er sklavisch an den Lippen von Karl Kraus, dem großen Wiener Satiriker, der durch seine Lesungen die Zeitgenossen in einen Bann schlug, von dem wir uns heute nur noch eine schwache Vorstellung machen können, wenn wir in seiner Zeitschrift, der Fackel, lesen.

Aber wie schon Nietzsche wusste: Jeder Meister hat nur einen Schüler, und der wird ihm untreu. Die Treulosigkeit Canettis liegt darin, wie er das, was bei Kraus Methode war, in ein eigentliches Ziel umwandelt. Kraus war es um die Akustik öffentlichen Sprechens zu tun, was damals hieß: um die Zeitung.

Dem, im doppelten Wortsinn, unhaltbaren Dauerrauschen ihrer Dummheit gewann er seine Figuren als Gedächtnisleistung ab, die er von seinen Hörern und Lesern verlangte; Witz, Pathos, Grausamkeit dienten ihm als Mittel, Dinge erinnerbar und so den größeren Feind kenntlich zu machen. Davon kann bei Canetti nicht die Rede sein. Sein Blick sprengt den privaten Umkreis nicht; er meint allein die Person, von der er handelt. Diese festgenagelt und damit erledigt zu haben, scheint ihm Lohn genug.

Als sein Hauptwerk hat Canetti immer "Masse und Macht" betrachtet. In ihm ist der Argwohn des starrsinnig Einzelnen gegen alles festgeschrieben, was über die Enge des hautumschlossenen Leibes hinauszuführen verheißt. Diesem droht der Tod; und jeder tut alles, um dem immerwährenden Gefühl solcher Drohung zu entrinnen, für einen auch noch so kurzen Augenblick.

Das leistet nur die Masse, oder scheint es zu leisten; in der Entgrenzung lebt sie, und sie muss sterben, wenn sie nicht die Zufuhr neuen Brennstoffs erhält. Ihr ungetrübtes Bild ist das Feuer; aber da sich das Massenhafte als ein so unentbehrliches Betäubungsmittel erweist, seine zerstörerische Gewalt in der Reinform indes nur selten angeht, hat die Kultur tausend Wege gefunden, die Masse auf die dauernde Grundlage einer schwelenden Glut zu stellen.

Dann gibt es "langsame Massen" wie z.B die katholische Kirche. Als Masse treten auch die Toten in Erscheinung; auf sie stützt sich der Tyrann, der getötet hat und wieder töten kann, und zelebriert im Entsetzen seine Lebendigkeit. Hier wurzelt alle Macht.

Von der Größe des Tierstimmenimitators

Es ist ein Werk, das befremdet hat. Zum einen fehlt in ihm gänzlich jede Idee von Liebe, die auf ihre Weise doch auch die Scheidewand zwischen den Lebewesen überwinden hilft. Bei Canetti ist nur der Angst vor dem Tod solche Gewalt gegeben, und auch dann nur zum Schein.

Untrennbar davon ist freilich auch das größte einzelne Verdienst des Buchs: Dass es den Müttern misstraut. Canetti sieht klar, wie viel von der Lust, Mutter zu sein, sich aus der unkontrollierbaren Kontrolle über den hilflosen kleinen Menschen speist. Er, der selbst ein Ungeheuer zur Mutter hatte, ist der große Hasser der Mütter und Witwen geworden.

Sorge vor dem Größenwahn

Zum anderen hat immer die Form dieses Buchs beirrt. Ist es Wissenschaft, Essay oder ethnologischer Feldbericht aus der "Provinz des Menschen"? Und wie, außer durch Behauptung, gedenkt es den Beweis seiner kühnen Thesen anzutreten?

Dabei lässt sich sein Widerpart, gegen den es durchaus bewusst antritt, ohne Mühe ausmachen: Ganz auf diese Weise, erzählend, räsonierend, mit nichts in der Hand für seine Begriffe als dem Gestus, mit dem er sie vorweist, verfasst Sigmund Freud seine theoretischen Schriften. Ihn und seine bürgerliche Individualpsychologie will Canetti im Namen eines Älteren aus dem Feld schlagen und beerben - wenngleich er diesen Anspruch nur ganz beiläufig anmeldet, wohl auch aus Sorge, für größenwahnsinnig zu gelten.

An Gegnern, die ihm genau das vorwerfen, hat es ihm nie gemangelt. Der kleine, rundliche Mann, dessen Fotos auf den ersten täuschenden Blick Gutmütigkeit ausstrahlen, muss eine Präsenz besessen haben, die Widerstand weckte und Respekt erzwang. Heute vor 100 Jahren wurde Elias Canetti im bulgarischen Rustschuk geboren. Fast siebzig Jahre hat er geschrieben, und fast neunzig Jahre ist er alt geworden. Ruhm gewann er erst spät, und durch eine Gruppe von Büchern, von denen er es am wenigsten wünschte: den vier Bänden seiner Lebenserinnerungen.

Unter dem strengen Blick seiner Zeugenschaft lassen sie das Deutschland, Österreich und England der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstehen, jener Jahrhunderthälfte, als es auf die Persönlichkeiten und deren Begegnung ankam.

Der Nachgeborene liest diese Bände mit einer zwiespältigen Faszination. Fast will ihm der Verfasser darin vorkommen als das, was diesem Widersacher des Todes und Verächter der Mächtigen immer am meisten verhasst war: als die Figur des machtvoll Überlebenden. Man muss ihn nicht lieben, um seine Größe zu empfinden.

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