Zum Auftakt in Cannes:Was der Führer spürt

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Kein einziger deutscher Film auf dem Filmfestival, nirgends. Trotzdem dominieren deutsche Visionen in Cannes - des Geldes wegen.

Tobias Kniebe

Der erste Morgen in Cannes, das erste Croissant unter Palmen, die Sonne scheint, der Himmel zeigt pflichtgemäß ein helles Azurblau - doch dann fällt der Blick auf eine Meldung der Lokalzeitung. Ein ansteckendes Virus sei ausgebrochen, heißt es da. Die Gefahr gelte zwar noch als gering, aber: 160 Pferde stehen jetzt vorsorglich unter Hausarrest, in acht Ställen entlang der Côte d'Azur.

Werbung für Tarantinos neuen Film in Cannes: Till Schwieger ist nur einer der deutschen Darsteller in "Inglorious Basterds". (Foto: Foto: oH)

Jetzt also Pferde. An Schweine und Mexikaner denkt ja schon fast keiner mehr, auch wenn in Nizza in der Halle des Flughafens noch entsprechende Warnplakate hängen. Die neue Seuche trägt den Namen Infektiöse Anämie, Ansteckende Blutarmut. Angeblich betrifft sie nur Einhufer, neben Pferden also noch Esel, Maulesel, Zebras, und dergleichen mehr. Aber Viren, das wissen wir ja nun, können mutieren. Und von Spezies zu Spezies überspringen. Zum Beispiel vom Pferd auf den Filmemacher.

Ein Festival mit schätzungsweise 130000 Regisseuren, Autoren, Künstlern, Traumverkäufern und Schaulustigen, die jetzt aus aller Herren Länder anreisen, sich in Kinos und einem Festivalpalast zusammendrängen, in die Arme fallen, küssen, niesen, feiern, bewusstlos am Strand zusammenbrechen, und dann so ein Virus - die Folgen wären, ehrlich gesagt, unvorstellbar: Ansteckende Blutarmut im Autorenkino, auf Jahre hinaus, wohin man auch schaut.

Sicher ist also nur, wer schon starke Antikörper mitbringt. Quentin Tarantino zum Beispiel, dem man alles Mögliche vorwerfen kann, nur nicht gerade Blutarmut. Spannende Frage, wie blutig, lustig oder schrecklich sein Kriegsfilm "Inglourious Basterds" jetzt wirklich geworden ist, der von naziskalpierenden jüdischen Guerillakämpfern (Brad Pitt, Til Schweiger) über dämonisch charmante SS-Offiziere (Christoph Waltz) bis zu propaganda-tauglichen Wehrmachts-Heroen (Daniel Brühl) so ziemlich alles enthält, was man im besetzten Frankreich des Zweiten Weltkriegs aufbieten kann. Ein wildes ironisches Spektakel, bei dem am Ende das Kino über die Geschichtsschreibung triumphieren darf? Beim Dreh in Babelsberg, hört man, habe Tarantino durchaus lustvoll mit dem Feuer gespielt. So soll er zum Beispiel eine Originalbrille Hitlers aus einer Privatsammlung in den USA organisiert haben, um sie seinem Hitler-Darsteller Martin Wuttke aufzusetzen. "Ich spürrre nichts", sprach der darauf - im Originalton des "Führers".

Knorriges für den Kirchenchor

Ob davon in Cannes noch etwas zu sehen sein wird? Das weiß man nie, auch bei den anderen großen Anstrengungen, deren Ergebnisse jetzt im Wettbewerb laufen.

Bei Michael Haneke und Lars von Trier haben die Geschichten ebenfalls viel mit Deutschland zu tun - das wirkt fast wie eine Art Schwerpunkt in diesem Jahr. Haneke, der österreichische Regie-Weltbürger, der gern auch in Frankreich dreht, bringt diesmal ein urdeutsches Bauerndrama, "Das weiße Band", an die Croisette:

Im tiefsten protestantischen Norden, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, eine Dorfschule, fromme Kinder, ein Kirchenchor - und seltsame Unfälle, die man durchaus als Strafe Gottes deuten könnte ... Ohne zeittypische Gesichter, das war schnell klar, würde das nicht gehen, berichtet der Produzent Stefan Arndt. Also brachen die Berliner X-Filmer nach Polen, Rumänien und Ungarn auf, luden alle knorrigen Bauernvisagen, die sie finden konnten, in Busse und verfrachteten sie in das winzige Dorf Netzow in Brandenburg. Schließlich nächtigten 400 solche Komparsen in einer leerstehenden Schule.

Der große Däne Lars von Trier wiederum nutzte den Mythos des deutschen Waldes, schwarz und schweigend, um sein Zwei-Personen-Stück "Antichrist" zu drehen. Jedenfalls filmte er in den abgelegensten Wäldern Nordrhein-Westfalens, mit Willem Dafoe und Charlotte Gainsbourg. In der Abgeschiedenheit einer Waldhütte versucht ein Ehepaar, den Tod seines dreijährigen Sohnes zu verkraften. Der Wald soll dabei offenbar helfen, aber er denkt gar nicht daran, im Gegenteil: Neurosen, Wahn und Halluzination finden hier erst recht ihren Nährboden, der Trailer, den man im Internet bereits sehen kann, erinnert an eine Kreuzung aus dem Hexenthriller "Blair Witch Projekt" und Kubricks Horrorklassiker "The Shining".

Anreiz: Anlage 2

Woher aber kommt diese internationale Faszination fürs Deutsche, die sich immer noch weiter fortpflanzt, auch nach dem "Vorleser" mit Kate Winslet und "Operation Walküre" mit Tom Cruise? Die Wirkungsmacht unserer dunklen und weniger dunklen Mythen, das wär' doch schön - aber der wahre Grund ist fast unangenehm prosaisch.

Seit Anfang 2007 zahlt der Filmförderfonds des Bundes ganz unbürokratisch sechzehn Prozent des Budgets, wenn in Deutschland gedreht, Stoffe aus dem "deutschen Kulturkreis" behandelt oder "Motive, die Deutschland zugeordnet werden können", benutzt werden. Selten wohl hat ein bürokratisches Dokument ("Anlage 2 zur Richtlinie Anreiz zur Stärkung der Filmproduktion in Deutschland") derart greifbare Auswirkungen auf das Filmschaffen der Welt gehabt.

Ob nun aber düstere bis sarkastische teutonische Visionen wirklich das Festival dominieren werden? Wohl kaum. Da müssten sie schon die spanischen Passionen eines Pedro Almodóvar übertrumpfen, der für "Los Abrazos Rotos / Zerrissene Umarmungen" wieder mit Penélope Cruz gedreht hat; die literarische Leidenschaft einer Jane Campion, die in "Bright Star" niemand anderen als John Keats zum Kinohelden macht, den größten Dichter der englischen Romantik; den koreanischen Stoiker Park Chan-Wook, der sich mit "Bak-Jwi / Durst" allem Anschein nach dem Vampirfilm widmet; oder der Hippie-Seligkeit eines Ang Lee, der in "Taking Woodstock" zeigt, wie ein paar ahnungslose Landeier das größte Konzertereignis der Geschichte auf ihre Farm locken.

Was davon bleiben wird, welche Bilder und Ideen von Cannes aus wieder um die Welt gehen werden, ist vorher leider unmöglich zu sagen. Nur eines darf das alles bitteschön nicht sein: blutarm.

Und falls doch? Was wäre, wenn das ganze Programm nicht richtig zündet, wenn die großen bekannten Namen am Ende alle versagen? Dann lässt unsere neugewonnene Kenntnis der Pferdekrankheit Equine Infectious Anemia nur einen furchtbaren Schluss zu: Dass das Virus schon vor Jahren mutiert ist, dass es über die berittenen Polizisten der Croisette ins Festivalpalais getragen wurde, dass es dort die Filmemacher und Drehbuchautoren infiziert hat, in deren Körpern und Herzen seitdem die Ansteckende Blutarmut ihr Zerstörungswerk treibt. Dann, liebe Freunde des Kinos, müssten wir eine Pandemie ausrufen.

© SZ vom 13.05.2009/bey - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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