Zum 80. Geburtstag von Jürgen Habermas:Das leuchtende Beispiel

Öffentliche Intellektuelle sind eine gefährdete Spezies - zum Glück gibt es Jürgen Habermas. Der weltberühmte Philosoph feiert am Donnerstag seinen 80. Geburtstag.

Charles Taylor

Seit einem halben Jahrhundert ist Jürgen Habermas einer der berühmtesten Philosophen der Welt. Die Tiefgründigkeit und thematische Spannbreite seines Werks ist beeindruckend. Es ist unmöglich, Habermas' Denken in einem kurzen Essay wie diesem zusammenzufassen. Was ich jedoch versuchen möchte, ist, drei Facetten seiner außergewöhnlichen Arbeit herauszustellen, die dabei helfen könnten, seinen verdienten Ruhm und Einfluss zu verstehen.

Zum 80. Geburtstag von Jürgen Habermas: Einer der berühmtesten Philosophen der Welt: Jürgen Habermas wird 80 Jahre alt.

Einer der berühmtesten Philosophen der Welt: Jürgen Habermas wird 80 Jahre alt.

(Foto: Foto: Regina Schmeken)

In der Welt der in Amerika dominierenden analytischen Philosophie ist Jürgen Habermas vor allem als Moralphilosoph und politischer Denker bekannt. Tatsächlich hat er sich immer gegen den verbreiteten Relativismus und Subjektivismus in moralischen Fragen gewandt, der für zeitgenössische Denker ja eine gewisse, aus vielen Gründen gut nachvollziehbare Anziehungskraft hat.

Die Schwierigkeit, mitten im heftigen Widerstreit der Überzeugungen, der unsere Zeit kennzeichnet, an bestimmten unverbrüchlichen moralischen Grundsätzen festzuhalten, legt schließlich den Schluss nur allzu nahe, dass moralisches Wissen kein objektives Wissen sein kann, sondern allenfalls emotionale Reaktion oder subjektive Projektion.

Habermas bot solchen non-kognitivistischen Ansichten jedoch von Anfang an die Stirn. Es gibt für ihn objektives Wissen in moralischen Fragen. Genauso hoffte er allerdings mit einer Vorstellung von Wissen brechen zu können, deren Wurzeln bei Plato und Aristoteles liegen. Nach dieser Tradition geht es bei moralischen Fragen sofort um die Natur des Menschen und aller Dinge. Es gibt dort eine genaue Vorstellung davon, was der Mensch ist und sein soll und welcher Platz ihm im Universum zukommt. Habermas zufolge war es die Diskreditierung dieser "metaphysischen" Perspektive, die dem Non-Kognitivismus schließlich seine Überzeugungskraft verschaffte. Um nun dessen Subjektivismus zu widerlegen, braucht die Moral eine andere rationale Basis.

Um die zu schaffen, machte Habermas die Rationalität moralischer Überzeugungen abhängig von der Rationalität des Beratungsprozesses, dessen Ergebnis sie sind. Die Deliberation, die allgemeine Beratung also, ist in dem Moment rational, in dem sie bestimmte formale Voraussetzungen erfüllt. Hier folgt er natürlich einem Weg, auf dem Kant Pionierarbeit geleistet hat. Und doch ist Habermas für eine revolutionäre Veränderung dieser Tradition verantwortlich. Während es nämlich Kant um die Entdeckung vernünftiger, universalisierbarer Maximen geht, geht es bei Habermas vor allem einmal um die Art und Weise der Entdeckung dieser Maximen selbst. Auf die kann bei Kant ein einsamer Geist allein kommen. Habermas jedoch hat hier die dialogische Dimension eingeführt. Die einzigen letzthin annehmbaren moralischen Normen sind bei ihm jene, die von all denen akzeptiert werden, die von ihnen betroffen sind.

Tiefgreifende Paradigmenwechsel

Mit anderen Worten: Die Ethik ist für Habermas in erster Linie eine soziale, dialogische Angelegenheit; die Menschen machen sie unter sich aus. Natürlich können wir moralische Fragen auch mit uns selbst verhandeln, aber die prinzipielle Anlage unserer moralischen Welt ist dialogisch. Selbst wenn wir gegen die normativen Überzeugungen unserer jeweiligen Gemeinschaft rebellieren, ist unser moralisches Denken von dieser Voraussetzung geprägt.

Indem er diese modifizierte Form des Nachdenkens über Fragen der Moral etablierte, brachte Habermas zwei tiefgreifende Paradigmenwechsel des späten 20. Jahrhunderts zum Ausdruck. Einer fand in der Philosophie, der andere in unserer politischen Kultur statt. Der philosophische Paradigmenwechsel war die dialogische Wende ("dialogical turn") selbst, die man an so vielen Orten beobachten konnte: in der Kritik an der monologischen cartesianischen Erkenntnistheorie bei Wittgenstein und in der Phänomenologie oder in der soziologischen Theorie, die in der Folge George Herbert Meads begann, die dialogische Natur der Entwicklung des Selbst zu betonen. Die Liste ließe sich ewig fortsetzen.

Der zweite bedeutende Paradigmenwechsel führte in unserer politischen Kultur zu einer Renaissance des Dialogs. Man hielt nämlich die politische Identität einer demokratischen Gesellschaft bald nicht mehr für endgültig festgelegt von einmal bestimmten Prinzipien oder Gründungsakten. Der Feminismus, der Multikulturalismus, die Schwulenbewegung und nicht zuletzt die intensiven Auseinandersetzungen über Identität und Anerkennung brachten ans Licht, wie viele traditionelle gesellschaftliche und politische Übereinkünfte auf dem stillschweigenden Ausschluss von Minderheiten fußten. Die Wiedervorlage des Gesellschaftsvertrags wurde als dringende Aufgabe angesehen. Und das konnte nur noch dialogisch passieren.

Signum der Moderne

Habermas' philosophische Aufnahme des "dialogical turn" war nicht die einzige. Es gibt konkurrierende Ansätze, die nicht wenige für überzeugender halten (so auch der Autor dieser Zeilen), der Habermas'sche war jedoch ein außergewöhnlich wichtiger und einflussreicher. Dies ist die erste Quelle seines verdienten Ruhms.

Darüberhinaus ist Habermas' Moraltheorie weitaus breiter angelegt als die der meisten analytischen Philosophen, denn sie ist nicht nur in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Soziologe und Sozialtheorie entstanden, sondern auch in Auseinandersetzung mit Theorien über die Entwicklung der Moderne. Was also die Bandbreite seiner Interessen angeht, ist er - all seiner Affinität zu einigen analytischen Philosophen zum Trotz - durch und durch ein kontinental-europäischer Philosoph. Dies ist der zweite wichtige Gesichtspunkt, den ich hervorheben möchte.

Sphäre des Ästhetischen

Mit Max Weber sieht Habermas die Wandlung unseres Vernunftverständnisses als zentrales Signum der Moderne. Es gibt zahlreiche Formulierungen dieser Idee in seinem Werk, ich möchte hier eine Version des Gedankens aufnehmen, die sich in seiner 1981 veröffentlichten und enorm einflussreichen "Theorie des kommunikativen Handelns" findet. Für Plato und die meisten westlichen Denker nach ihm ist die Vernunft ein menschliches Vermögen, dass uns nicht nur befähigt, nach der Wahrheit zu streben, sondern auch nach dem Guten und Schönen. Das heißt, dass dieselbe Vernunft die verschiedensten wichtigen Dimensionen des menschlichen Lebens begründen kann: Durch sie offenbart sich uns, was wirklich ist, was wir tun sollen und was wahrhaft schön ist. Man könnte sagen, dass von ihr die wissenschaftlichen, die moralischen und die ästhetischen Dimensionen des Lebens abhängen.

Habermas schlägt nun nicht vor, die Vernunft nur im Bereich der Wissenschaften anzuwenden und die Moral und Ästhetik der Willkür der Gefühle und des Geschmacks zu überlassen. Es geht ihm vielmehr um eine Ausweitung des Vernunftbegriffs. Die wissenschaftliche Vernunft versucht herauszubekommen, was real ist. Die moralische Vernunft jedoch bewegt sich im Bereich der menschlichen Natur. Das ist etwas ganz anderes. Der gesamte Gedanke der Rationalität beruht hier nicht mehr auf der Idee, dass gültige moralische Normen mit den Fakten übereinstimmen müssen. Eine Aussage ist hier in dem Moment gerechtfertigt, in dem klar ist, dass sie das Ergebnis gemeinsamer Beratung ist. Im Reich der Tatsachen oder in der Wissenschaft ist die Lage wieder völlig anders. Ganz ähnliches gilt für die Sphäre des Ästhetischen.

Ein Schlüsselaspekt der Moderne ist für Habermas die Differenzierung der Sphären. Rationale Gültigkeit habe im Laufe dieser Entwicklung an Eindeutigkeit verloren. Auf unterschiedlichen Gebieten könne sie jeweils eine ganz unterschiedliche Gestalt haben. Das ist die Verschiebung, die im Zusammenhang mit moralischen und politischen Fragen dem von Habermas häufig verwendeten Begriff "post-metaphysisch" zugrunde liegt. Moralische Handlungen und Normen sind nicht länger gerechtfertigt, weil sie direkt mit irgend einer metaphysischen Wirklichkeit übereinstimmen.

Diese Differenzierung beinhaltet auch die Emanzipation des Menschen. Sie hat aber Nachteile und kann nicht einfach kritiklos gutgeheißen werden. Ein weiterer Grund dafür, dass Jürgen Habermas auf der ganzen Welt hochgeachtet wird, ist deshalb die Geschichtstheorie und nicht zuletzt die philosophische Anthropologie, die er vorgelegt hat.

Leidenschaftlich und unbestechlich

Beide hätten aber nicht im Entferntesten so weitreichende Folgen haben können, wenn Jürgen Habermas nicht auch das Paradebeispiel eines in der Öffentlichkeit wirkenden Intellektuellen wäre. Nur zu schreiben, zu lehren und philosophisch zu diskutieren, war ihm nie genug. Unermüdlich und mit großem Mut hat er immer auch an den bedeutenden Debatten der Zeit teilgenommen. Am deutschen "Historikerstreit" etwa oder - in der jüngeren Vergangenheit - an den Debatten zum "Krieg gegen den Terrorismus" oder zur Zukunft Europas. Man kann wohl guten Gewissens sagen, dass Theorie und Praxis in Habermas' Denken eine organische Verbindung eingehen. Als Demokratietheoretiker und als Verfechter eines offenen, herrschaftsfreien Diskurses muss er intervenieren, wenn seine zentralen Werte in Gefahr zu geraten drohen.

So lebt er seine Philosophie, leidenschaftlich und unbestechlich. Es ist auch diese beherzte und konsequente persönliche Haltung, die bei Kollegen und in der Öffentlichkeit einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Nicht nur in Deutschland und Europa, auch weltweit.

Wir müssen uns heutzutage wohl längst Sorgen um den öffentlichen Intellektuellen machen. Er scheint eine gefährdete Spezies zu sein. Einerseits droht seine Rolle umso trivialer zu werden, je mehr offene Briefe aus immer nichtigeren Anlässen zirkulieren, die nur allzu leicht zu unterzeichnen sind. Andererseits wird der Intellektuelle in der Politik mehr und mehr vom hochspezialisierten Experten ersetzt, der über die Verwendung seiner Expertise kaum noch selbst verfügen kann.

In einer solchen Welt bleibt Jürgen Habermas das leuchtende Beispiel eines Mannes, der die Rolle des Bürgers und die des Philosophen in überragender Weise vereint. Wir stehen alle in seiner Schuld, ob wir nun in demokratischen Ländern leben oder nicht. Er ist eine Inspiration für uns alle. Nicht zuletzt deshalb wünsche ich ihm zum 80. Geburtstag noch viele produktive Jahre.

Der Autor ist Philosoph. Im November des vergangenen Jahres erhielt er den mit 50 Millionen Yen (rund 400.000 Euro) dotierten Kyoto-Preis, den sogenannten Nobelpreis für Philosophen und Künstler. Bis zu seiner Emeritierung war der 77-jährige Kanadier Charles Taylor Professor an der McGill University in Montreal. Mit seiner 1989 erschienenen, geistesgeschichtlichen Untersuchung zur Entstehung der neuzeitlichen Identität, "Quellen des Selbst", etablierte er sich als einer der führenden Denker der Gegenwart. 2007 erschien sein vorerst letzter großer Wurf: "A Secular Age", eine Studie zum Prozess der Säkularisierung.

Deutsch von Jens-Christian Rabe

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: