Zum 100. Todestag:Gelobtes Land des Schachfürsten

Die Murnauer Ausstellung "Verloren - doch nicht vergessen!" erinnert an den Architekten Emanuel von Seidl und dessen Bedeutung für die Region

Von Sabine Reithmaier

Der Titel der Ausstellung im Murnauer Schlossmuseum verleitet zum Rätseln. "Verloren - doch nicht vergessen!" - die Zeile könnte sich auf das Landhaus beziehen, das sich Emanuel von Seidl 1901 in Murnau baute. 1972 wurde es abgerissen, mit dem Einverständnis von Markt und Denkmalamt. Gemeint sein könnte aber auch die "Turnhalle", die nach Seidls Entwurf 1905 errichtet und 1989 abgebrochen wurde.

Verloren könnte auch auf den Ruhm des Architekten gemünzt sein. Die meisten denken beim Namen Seidl an den älteren Bruder Gabriel und dessen berühmte Bauwerke in München wie Künstlerhaus, Bayerisches Nationalmuseum, Lenbachhaus und das Deutsche Museum, dessen Bau allerdings Emanuel nach dem Tod des Bruders im Jahr 1913 fortführen musste. Aber wie auch immer: Der Titel ist ein Zitat. Die Bewohnerin einer Emanuel-von-Seidl-Villa schrieb ihn rückseitig auf ein Foto ihres Wohnhauses. Und drückte damit das aus, was die Sonderausstellung zu erreichen versucht: Verlorenes wieder sichtbar zu machen und anlässlich seines 100. Todesjahrs an Emanuel von Seidl zu erinnern.

Zum 100. Todestag: 1902 zieht Emanuel von Seidl in seine Villa am Kapferberg ein.

1902 zieht Emanuel von Seidl in seine Villa am Kapferberg ein.

(Foto: Schlossmuseum Murnau)

Lesefreudig sollte der Besucher allerdings schon sein, denn trotz etlicher Gemälde, Zeichnungen und Plastiken bestimmen überwiegend Texttafeln die Räume. Den ersten Saal freilich dominiert das monumentale Ölgemälde "Die Tafelrunde". Ludwig von Herterich malte es vier Tage vor dem 50. Geburtstag Seidls im Jahr 1906. Die Szenerie erinnert an Abendmahldarstellungen: Seidl in blauer Jacke steht mittig am Tisch, umgeben von seinen Freunden, darunter die Maler Franz von Stuck, Adolf Hengeler und Julius Diez oder der hingebungsvoll Cello spielende Arzt und Schriftsteller Felix Schlagintweit, seines Zeichens auch Kanonenbesitzer. Seidl ruht nicht, bis ihm sein Freund ebenfalls eine Kanone besorgte.

Zum 100. Todestag: Das von Seidl erbaute Gebäude wurde 1972 wieder abgerissen. Die Ausstellung will die Erinnerung daran aufrecht erhalten.

Das von Seidl erbaute Gebäude wurde 1972 wieder abgerissen. Die Ausstellung will die Erinnerung daran aufrecht erhalten.

(Foto: Schlossmuseum Murnau)

In diesem Raum wird Seidls Familiengeschichte aufgeblättert. Mutter Maria Theresia, Tochter des Spatenbrauereigründers Gabriel Sedlmayr, und Vater Anton Seidl, der angesehene Hofbäckermeister, führen ein offenes Haus, Münchner Künstler gehen bei ihnen ein und aus. Von den zehn Kindern sterben vier in jungen Jahren. Da sie im offiziellen Stammbaum der Familie nicht erwähnt sind, war bislang nur von sechs Geschwistern die Rede. Emanuel, 1856 geboren, ist, auch das ein neues Forschungsergebnis, das zehnte und damit jüngste Kind. Bruder Gabriel, 1848 geboren, ist da schon längst kreativ, bemalt Lebkuchen und entwirft Dekorationen fürs Gebäck, wie ein Blick in Vitrinen zeigt. Aufmerksam auf Murnau wurde Seidl durch seine älteste Schwester Therese. In erster Ehe mit dem Handschuhfabrikanten Christian Ludwig Roeckl, in zweiter Ehe mit dem Landschaftsmaler Konrad Reinherz verheiratet, besaß sie seit 1891 eine Sommervilla am Kapferberg. Emanuel war seit seinem ersten Besuch von der Gegend begeistert. Nachdem er sein Stadthaus am Bavariaring gebaut hat, kauft er im Sommer 1900 ein Grundstück am Kapferberg, also an den Südhängen Murnaus, und beginnt im Jahr darauf mit dem Bau. Den Einzug 1902 feiert er mit Franz von Lenbach und anderen Freunden. Das ist aber nur eines der vielen legendären Feste, von denen die Gästebücher erzählen. Dass man sie in digitalisierter Form durchblättern kann, ist ein Highlight der Schau und vermutlich eine schier unerschöpfliche Quelle für die Forschung.

Zum 100. Todestag: In seiner Villa feierte der junge Architekt (Foto um 1896) legendäre Feste mit Freunden.

In seiner Villa feierte der junge Architekt (Foto um 1896) legendäre Feste mit Freunden.

(Foto: Schlossmuseum Murnau)

Vermutlich gab es nichts, was Seidl nicht als Anlass für ein Fest nutzte: der erste Spargel, das Abfischen des Karpfenteichs, der Einzug des japanischen Schwanenpaars, Skiausflüge, Schachturniere, die im Gästebuch auch dann verewigt wurden, wenn der Hausherr nicht da war: "Allgemeine Regensonntags-Schachhoftrauer über den abwesenden Schachfürsten Emanuel von Seidl", hat Bildhauer Fritz Behn am 30. August 1908 unter eine Zeichnung mit weinenden Schachfiguren geschrieben. Konzerte und Theateraufführungen gab es natürlich auch. Sogar Max Reinhardt inszenierte Shakespeares "Sommernachtstraum" als "Naturtheater" im Park - er war 1910 mit seinem Ensemble am Münchner Künstlertheater zu Gast. Und die Bahn legte ob des Ereignisses sogar einen außerplanmäßigen Halt am Seidlpark ein, Hotels und Gästehäuser waren überfüllt.

Überhaupt der Park, der seit 1986 unter Denkmalschutz steht: Seidl erweitert ihn ständig, kauft Grundstücke dazu, legt geschwungene Wege und Weiher an, errichtet einen "Freundschaftshügel", baut eine große Aussichtsterrasse mit dem "Brunnen der Gastfreundschaft" und zwei liegenden Hirschskulpturen. "Ein paar Hirsche mit goldenen Geweihen und einem Brunnen, bei dem aus acht goldenen Äpfeln - meine Glückszahl - dünne Wasserstrahlen fließen, bilden den plastischen Schmuck", notiert Seidl.

Zum 100. Todestag: Von den Festivitäten erzählen die Gästebücher mit kunstvollen Einträgen, die in der Murnauer Schau zu sehen sind.

Von den Festivitäten erzählen die Gästebücher mit kunstvollen Einträgen, die in der Murnauer Schau zu sehen sind.

(Foto: Schlossmuseum Murnau)

Schon verständlich, warum er das Areal als sein "gelobtes Land" bezeichnet. Dass er sich hier auch stilistisch veränderte, persifliert ein großes Ölgemälde mit dem Titel "Als Seidl in Murnau seiner alten Liebe untreu wurde". Julius Diez hat den Architekten des Historismus zwischen zwei Frauen verewigt; die ältere hält ihn an den roten Rockschößen noch fest, doch er strebt energisch der jungen Schönen im Reformkleid zu. An die 60 Villen hat er erbaut oder genauer: Er hat Landschaftsbilder komponiert. Ein Beispiel ist die Richard-Strauss-Villa inmitten eines Parks in Garmisch-Partenkirchen. In München erinnert die Seidl-Villa an ihn, aber er hat auch das Gärtnerplatztheater oder das Elefantenhaus in Hellabrunn gebaut.

Murnau verdankt ihm besonders viel. Nicht nur etliche Villen, sondern auch die "Dorfverschönerung": Von 1906 bis 1913 wurden nach seinen Entwürfen die Fassaden im Ort farbig bemalt, die Häuser mit Handwerks- und Gewerbeemblemen versehen, manches umgebaut. Und diese Gestaltung von Ober- und Untermarkt hat sich tatsächlich bis heute erhalten.

Verloren - doch nicht vergessen! Emanuel von Seidl zum 100. Todesjahr, bis 1. März, Di. bis So. 10-17 Uhr, Schloßmuseum Murnau

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