Virtual Reality:Mit Virtual Reality mitten in die Katastrophe

Virtual Reality: Filmemacher Chris Milk glaubt, "dass diese Maschine unsere Gedanken verändern kann." Hier eine Szene aus seiner Ebola-Doku "Waves of Grace".

Filmemacher Chris Milk glaubt, "dass diese Maschine unsere Gedanken verändern kann." Hier eine Szene aus seiner Ebola-Doku "Waves of Grace".

(Foto: vrse.works)

Virtuelle Realität erobert den Alltag. Doch was als "Star Wars"-Werbung unterhält, kann im Journalismus auch berühren.

Von Michael Moorstedt

Die Zukunft ist heutzutage an der Supermarktkasse erhältlich. Der Kunde bekommt sie in Form von "Star Wars"-Merchandising bei Rewe überreicht. Mithilfe eines Smartphones samt passender App und eines Pappgestells kann man daraus eine Art Hologramm-Projektor basteln. Das gezeigte Bild sieht dann beinahe so aus wie die Botschaft von Prinzessin Leia, die R2-D2 im allerersten "Star Wars"-Film projizierte und die eine ganze Generation nicht nur von weit entfernten Galaxien, sondern auch von besserer Unterhaltungselektronik träumen ließ.

Die gibt es nicht nur bei Rewe. Auf Facebook rasen die Nutzer in einem im 360-Grad-Panorama schwenkbaren Film über einen Wüstenplaneten. Sie können den Blickwinkel der Kamera mit dem Mauszeiger dirigieren, hören Laserfeuer, blicken in den Himmel und sehen den Millennium Falcon vorbeirasen. Näher dran war der Zuschauer nie, auch im Kino nicht.

Flüchtlingskinder blicken einem direkt in die Augen

360-Grad-Videos sind gerade die ultimative Waffe im Kampf um die Aufmerksamkeit. Die Entertainment-Industrie ist wie berauscht von der Möglichkeit, die Konsumenten endlich mal wieder beeindrucken zu können. Bands wie U2 oder Coldplay lassen Videos in diesem Stil produzieren. Kein Blockbuster kommt noch ohne einen rundum erfahrbaren Trailer in die Kinos.

Man kann die Zukunftstechnologie aber auch für noch wichtigere Dinge nutzen.

Anfang November hatten die Abonnenten der New York Times eine ungewöhnliche Beilage in ihrer Zeitung: ein Stück Karton, aus dem man ein grobschlächtiges Gestell basteln kann, in das man sein Smartphone steckt. So entsteht die Billigversion einer Virtual-Reality-Brille. In der zugehörigen App läuft ein Film, der das Gefühl vermittelt, an einem anderen Ort zu sein. Wenn man die Brille aufsetzt, wird jede Kopfbewegung des Zuschauers zum Kameraschwenk. Flüchtlingskinder stehen ihm vis-à-vis gegenüber, blicken ihm direkt in die Augen.

1,3 Millionen Stück dieser Brillen sind durch die Aktion der New York Times auf einmal unter die Leute gekommen. Zusammen mit dem herkömmlichen Verkauf sind es mehr als zwei Millionen. Durch den "Star Wars"-Hype kann man wohl noch ein paar Millionen Menschen hinzurechnen, die auf einmal mit der Virtual Reality (VR) in Kontakt kommen. Vor nicht mal einem Jahr war sie noch ein Spielzeug für Erstanwender. Jetzt ist VR auf dem besten Weg, ein Massenmedium zu werden. Und dafür ist es höchste Zeit.

Denn die VR-Filme sind eben nicht nur ein prima Marketingvehikel. Sie sind die "ultimative Empathie-Maschine", wie es der Filmemacher Chris Milk ausdrückt. Milk hat mit seiner Produktionsfirma Vrse schon mehrere 360-Grad-Filme gedreht und auch an dem New York Times-Film mitgewirkt. Eine solche Maschine kann gerade in diesen Zeiten durchaus hilfreich sein. Das konventionell vermittelte Elend, das jeden Tag auf die Menschen einprasselt, sei es in den sozialen Medien oder im Fernsehen, scheint vielen nicht mehr auszureichen, um ein Mitgefühl zu entwickeln.

Die meisten Filme spielen in einem Katastrophengebiet

Da ist es nur konsequent, dass Milk seine erste Dokumentation namens "Clouds over Sidra" das erste Mal Anfang des Jahres auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos gezeigt hat. Der Zuschauer sieht, nein, er befindet sich im jordanischen Flüchtlingscamp Zaatari, das schon längst kein Camp mehr ist, sondern eine Stadt mit rund 80 000 Einwohnern. Blickt er an sich herab, sieht er Kinder herumwuseln, sieht sie zur Schule gehen, Fußball spielen, hungern, er ist mittendrin. Jungs drängeln sich vor ein paar altertümlichen Computern. Auf den Bildschirmen: Ego-Shooter. "Nach allem, was passiert ist, wollen sie immer noch kämpfen", kommentiert das Mädchen Sidra aus dem Off.

"Es ist eine Maschine, aber innen drin fühlt es sich wie echtes Leben an, wie die Wahrheit. Man ist dann Teil dieser Welt", versucht Milk zu beschreiben, warum seine Filme die Zuschauer so berühren. Und so ist es kein Wunder, dass die meisten der Filme in dem einen oder anderen Katastrophengebiet spielen. Nach dem Erdbeben in Nepal im Frühjahr schickte das Medien-Start-up Ryot ein VR-Team in die Ruinen von Kathmandu.

Ein weiterer Schauplatz: das zerstörte Aleppo. Einmal das Smartphone vor den Augen, findet man sich plötzlich in den Straßen der syrischen Stadt wieder, kein Mensch ist in Sicht, nur Schutt. Dann wieder hat das Filmteam die Kamera auf einem Häuserdach aufgestellt. Überall zertrümmerte Fassaden, Satellitenschüsseln weisen nutzlos in den Himmel. Aus der Ferne klingt der Ruf eines Muezzin. Für die nächste Zeit ist bereits eine ganze Reihe von Filmen geplant. Einer soll Umweltverschmutzungen in Indien zum Thema haben. Zwei andere Projekte widmen sich dem Klimawandel in China und den Amazonas-Gebieten.

Nur zwei Sachen stören die Medienutopie bisher. Da ist zum einen die geringe Auflösung. Zumindest in den Kartonmodellen von Google dient ja ein Smartphone-Display als Leinwand. Durch zwei Linsen vor den Augen werden die einzelnen Pixel vergrößert. So entsteht der Fliegengittereffekt - der Film wird wie durch ein feinmaschiges Raster betrachtet. Außerdem kann sich der Zuschauer zwar frei umschauen, er ist aber noch immer auf einen Standpunkt fixiert. Denn er ist ja die Kamera.

Nächster Schritt: Holodeck

Das Start-up Lytro hat aber auch für dieses Problem schon eine Lösung in Aussicht gestellt. Eine sogenannte Lichtfeldkamera. Das Ding sieht aus wie eine mutierte Discokugel und beherbergt mehr als hundert hochauflösende Objektive, die es ermöglichen, die Schärfentiefe im Nachhinein zu verändern. Man könnte sich also nicht nur in den Filmen umsehen, sondern frei in ihnen bewegen. Wenn alles gut läuft, kann man das Holodeck schon im nächsten Frühjahr besuchen.

Dort wird es jedoch, anders als in den Visionen, die Science-Fiction-Autoren wie Neal Stephenson oder William Gibson vor Jahren schon für die virtuelle Realität erdachten, eher gemächlich zugehen. Es ist wohl das erste Mal, dass ein neues Medium langsamer ist als seine Vorgänger. In den 360-Grad-Filmen lassen sich nicht mehr inflationär Schnitte setzen - sonst rebelliert der Gleichgewichtssinn der Zuschauer. Deshalb dauern einzelne Szenen gerne mal eine halbe Minute und mehr. Außerdem gibt es buchstäblich kein "hinter der Kamera" mehr. Wo soll sich das Filmteam auch verstecken, wenn der Zuschauer sich jederzeit umdrehen kann.

Man ist in diesen Filmen nicht mehr Zuschauer, sondern Beiwohner

Dafür gibt es neue Möglichkeiten für den Regisseur, etwa die Frage, welcher Blickrichtung er den Zuschauer in einer neuen Szene aussetzt. So kann es dem Nutzer passieren, dass er sich auf einem Stoppelfeld wiederfindet und sich erst mal orientieren muss. Dann dreht er sich um und sieht auf einmal dem ernst dreinblickenden syrischen Mädchen Hana ins Gesicht. Man ist nicht mehr Zuschauer, sondern Beiwohner.

"Wir bauen eine bewohnbare Sphäre, und deshalb denke ich, dass diese Maschine unsere Gedanken verändern kann", so selbstbewusst referierte Chris Milk in seinem Vortrag auf einer Ted-Conference im Frühjahr. Das sagt eigentlich schon alles.

Virtual Reality ist kein diskretes Medium. "Waves of Grace" heißt eine weitere von Milks Dokumentationen. Der Film (falls das überhaupt noch der richtige Begriff ist) erzählt die Geschichte von Decontee Davis, einer jungen Frau aus Liberia während der Ebola-Epidemie im Herbst 2014. Weil sie die Krankheit überlebt hat, ist sie immun gegen das Virus - und hält jene in den Armen, deren Körper noch vom Fieber geschüttelt werden. Das dramatische Piano, das im Hintergrund erklingt, während Davis am Strand steht und ein Stoßgebet in den Himmel schickt, könnte man sich getrost sparen. Es ist auch ohne Soundtrack berührend genug.

"Es gibt keine Möglichkeit, zu verstehen, wie intensiv Virtual Reality wirkt, solange man es nicht selbst ausprobiert hat", sagt Jeremy Bailenson, und man kann das durchaus als diskursiven Offenbarungseid verstehen. Immerhin ist der Mann Gründungsdirektor des Virtual Human Interaction Lab der Universität von Stanford und forscht seit mehr als einem Jahrzehnt an der Technologie, die ja so neu gar nicht ist, wie sie sich heutzutage anfühlt.

Virtual Reality sei "das endgültige Medium"

Als die Gebrüder Lumière Ende des 19. Jahrhunderts ihre ersten Filme aufführten, so wird kolportiert, rannten manche Menschen in Panik aus den Kinos, als sie einen in die Station einfahrenden Zug auf der Leinwand sahen. Zu gewaltig, zu real kamen ihnen die Bilder vor. Wer mit Hollywood-Blockbustern aufgewachsen ist, kann das nicht nachvollziehen.

Doch wie um die Lumières zu zitieren, ließ auch Chris Milk in einem seiner ersten Experimente eine Dampflok auf den Zuschauer zurasen. Nicht wenige müssen sich von ihr abwenden, springen gar einen Schritt zur Seite. Die Video-Sphäre ist nicht einfach nur beeindruckend. Sie ist eine Offenbarung, kann sich sogar bedrohlich anfühlen. Immerhin wird einfach eine andere, fremde Schicht über die eigene Wahrnehmung gestülpt.

Virtual Reality sei "das endgültige Medium", sagt Milk deswegen. Ein Medium, das einfach verschwindet, weil es weder Monitor noch Leinwand gibt. Da ist kein Rechteck mehr, in dem sich Bilder bewegen. Und um dieses Rechteck herum lag im Dunkel oder Dämmerlicht ja doch immer noch die Restrealität.

Das sorgt nun bei VR für ganz reale Desorientierung. Egal, ob sich die Zuschauer die Pappbrille im Büro, im Wohnzimmer oder in der Küche anlegen, sie stoßen an Stühle oder Tische, machen ein paar Trippelschritte in die eine oder andere Richtung, stolpern fast. Und eines ist sicher - wenn man die Brille absetzt, befindet man sich nicht mehr am gleichen Ort.

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