An dieser Stelle erst mal Glückwünsche an Thomas Piketty. Der Wirtschaftswissenschaftler von der Paris School of Economics, den bis vor ein paar Monaten nur Kollegen vom Fach kannten, hat mit "Das Kapital im 21. Jahrhundert" nicht nur den Theorie-Bestseller des Jahres geschrieben. Er ist jetzt auch Erstplatzierter auf einer Liste im Wall Street Journal. Der Mathematiker und Kolumnist Jordan Ellenberg hat sie erstellt, und den Index, den er zur Berechnung der Liste nutzte, hat Ellenberg auch gleich Piketty-Index getauft. Was für eine Ehre für den Franzosen - und was für eine Schmach. Piketty führt nämlich die Liste jener Autoren an, deren Bücher nach nur sehr kurzer Lektüre schon wieder aus der Hand gelegt werden.
Die nicht ganz ernst gemeinte Auflistung hat Ellenberg mithilfe einer kleinen Rechnung erstellt. Er notierte, welche fünf Stellen in einem Buch am häufigsten von Lesern markiert worden waren. Und dann bildete er aus den Seitenzahlen der Markierungen einen Mittelwert, den er durch die Gesamtzahl der Buchseiten teilte. So ermittelte er, wie weit die Leser kamen, ehe ihr Interesse abbrach.
Ellenberg beschränkte sich auf E-Books, weil Amazon Markierungen aller Kindle-Leser veröffentlicht. Alle anderen Käufer des jeweiligen digitalen Buches können sie also sehen. Weshalb Statistiken künftig automatisiert erstellt werden könnten.
Direkt hinter Piketty liegt der Astrophysiker Stephen Hawking mit "Eine kurze Geschichte der Zeit", deutlich besser steht es um den Romanklassiker "Der große Gatsby" von F.
Scott Fitzgerald. Legt man ähnliche Maßstäbe in Deutschland an, stellt man fest, dass es bei Peter Sloterdijks neuem Großessay "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" nur bis Seite 53 Markierungen gibt - und das bei insgesamt 489 Seiten. Frank Schätzings Roman "Breaking News" bringt es dagegen bei 955 Seiten auf Markierungen bis Seite 836. Der Leser bleibt also offenbar dran, ebenso übrigens wie - nach Ellenbergs Berechnungen - an Donna Tartts monumentalem Roman "Der Distelfink".
Die Markierungen bei Peter Sloterdijks jüngstem Großessay enden auf Seite 53
Ellenbergs Untersuchung hat allerdings Schwächen. Nicht alle Leser lesen E-Books, nicht jeder, der aufhört, Textstellen zu markieren, hört auf zu lesen. Und nicht alle, die lesen, markieren Textstellen, obwohl die Funktion komfortabel ist. Gerade in deutschen Werken verwenden Leser sie kaum. Außerdem zeigt sich, dass markierte Sätze von weiteren Lesern ebenfalls markiert werden, so dass sich der Effekt verstärkt.
Kurzum: Weder die Untersuchung im Wall Street Journal noch die Angaben für die deutschen Bücher sind wirklich akkurat, es handelt sich eher um Indizien als um Beweise.
Das könnte sich jedoch ändern. In Zukunft werden schließlich fast alle Medien - Bücher, Songs, Filme, Serien, Nachrichten - digital vorliegen und digital konsumiert werden. Das bedeutet, dass die Rezeption - also das Hören, Lesen, Sehen - viel exakter überwacht werden kann, als das bislang der Fall ist.
Für Amazon etwa dürfte es kein Problem sein, exakt aufzuzeichnen, wie lange Leser auf welcher Buchseite im Kindle verweilen. Musikdienste wie Spotify können bereits heute genau sagen, welche Lieder von wem wie lange und wie oft gehört werden, und wo wie viele Nutzer abschalten. Kameras auf Fernsehern oder, noch einfacher, Programmcode in Videostreams können künftig auch die Reaktionen von Zuschauern zuverlässig ermitteln. Auf Videoseiten geschieht das bereits heute. Auch die Süddeutsche Zeitung erhebt, sofern die Leser einer entsprechenden Datenschutzerklärung zugestimmt haben und unter Rücksichtnahme auf geltende Datenschutzbestimmungen anonymisierte Daten darüber, welche Artikel in der SZ-App gelesen werden.
Die so erhobenen Daten lassen zunächst nur Rückschlüsse auf das Verhalten des Lesers, Hörers oder Zuschauers zu. Es kann natürlich sein, dass jemand aufhört zu lesen, weil er plötzlich ins Krankenhaus muss. Aus massenhaften Daten jedoch lässt sich recht zuverlässig schließen, was die Menschen in ihre Köpfe lassen - und was nicht.
Nicht zuletzt in der Kultur wird dies womöglich noch viele erschüttern, denn die exakte Kenntnis darüber, wann Menschen aufhören, sich für ein Produkt zu interessieren, wird dazu führen, dass sich Produkte verändern. Der Markt dringt hocheffizient vor in die Verästelungen von Texten, in einzelne Takte von Liedern, in einzelne Szenen eines Videos.
Werbefirmen nutzen diese Technik längst, um Spots so zu filmen und zu schneiden, dass die Aufmerksamkeit der Zuschauer am höchsten ist, wenn das zu preisende Produkt ins Spiel kommt.
Früher blieb der Leseabbruch ein privates Geheimnis, das Buch stand weiterhin im Regal. Heute kann es vom Kindle gelöscht werden. Und wie wenig es gelesen wird, ist öffentlich. Womit man bei der Frage wäre, warum etwas produziert werden soll, was nicht konsumiert, also offenbar auch nicht besonders geschätzt wird?
Solange es um Nachrichten geht, sind ethische Faktoren wichtig: Berichtet werden muss nicht nur, was gelesen wird, sondern auch, was wichtig ist. Oft genug ist das glücklicherweise dasselbe.
Zehn Hits und drei Megahits
Im Bereich der Kunst aber wird es künftig auch um die Frage gehen, ob nicht das, was nicht oder kaum konsumiert wird, notwendig ist, um jenes, das besonders beliebt ist, glänzen zu lassen oder überhaupt erst zu ermöglichen. Weil die drei Hits auf einem Album nicht strahlen ohne die übrigen zehn Songs; weil es das eine grandiose Werk eines Autors nicht gäbe ohne die Bücher von ihm, die lesenswert sind, aber im Grunde noch eher Vorübungen.
Im Silicon Valley lachen Programmierer über solche Vorstellungen. Was für eine romantische Vorstellung, was für ein lächerliches Argument jener mediokren Sänger, Schreiber, Autoren, die ahnen, dass es nicht nur um ihre Produkte, sondern auch um ihre Jobs gehen wird. Und doch ist der kalifornische Plan nicht uninteressant: Die Nerds verlangen Innovationen in allen Bereichen. Aus zehn mittelmäßigen Tracks und drei Hits werden ihrem Verständnis nach dank exakter Berechnung dessen, was beim Publikum nicht ankommt, künftig eben zehn Hits und drei Megahits.
Dieser Effekt muss nicht für einen Sieg des Mainstreams sorgen. Umgekehrt nämlich sorgt der globale Markt dafür, dass insgesamt eine kleine Menge von Käufern ausreicht, um Inhalte herzustellen, die lokal und zeitlich beschränkt nur wenig Wertschätzung erfahren, aber global und auf Dauer ausreichend Fans haben. James Joyce' "Ulysses" oder "2nd Cassette Demo" der Flaming Lips dürfte es also auch in Zukunft geben. Und natürlich haben findige Entwickler gerade aus jenem, was nicht gehört oder gelesen wird, neue Geschäftsmodelle geformt. So kann man auf Forgotify jene vier Millionen der insgesamt 20 Millionen auf Spotify verfügbaren Songs anhören, die noch nie jemand angehört hat.
Erstaunlicher ist deshalb eher die Vision, dass eine große berechnete Erzählung entstehen könnte, die sich nicht aus der Kreativität der Autoren speist, sondern aus der Nachfrage der Konsumenten. Der Zufall könnte irgendwann wegfallen, die Eingebung des Rockstars nach ein paar Lines Kokain, der nächtliche Geistesblitz des Autoren. Die wahren Stars werden diejenigen sein, die die Zahlen der Maschinen, die den Erfolg und Misserfolg von Produkten dokumentieren, umsetzen können in ein Werk, das genossen wird. Und zwar vom Anfang bis zum Ende.