Zukunft des Journalismus (18):"Wir müssen noch viel dazulernen"

Medienexperte Nicholas Lemann spricht über alternative Konzepte und Finanzierungsquellen für den Qualitätsjournalismus.

S. Weichert und L. Kramp

SZ: Mr. Lemann, "You better start swimmin', or you'll sink like a stone" sang Bob Dylan Mitte der 1960er Jahre - heute scheinen diese Zeilen mehr denn je auf die amerikanische Medienlandschaft zuzutreffen. Wie bereiten Sie den Journalisten-Nachwuchs auf den tief greifenden Wandel im Journalismus vor?

Zukunft des Journalismus (18): Nicholas Lemann sieht in den neuen Präsentations- und Interaktionsformen den Vorteil des Online-Journalismus.

Nicholas Lemann sieht in den neuen Präsentations- und Interaktionsformen den Vorteil des Online-Journalismus.

(Foto: Foto: Iris Ockenfels)

Lemann: Wir an der Graduate School of Journalism denken, dass es nicht ausreicht, den Job richtig zu machen: Heute brauchen Medienunternehmen Journalisten mit Internet-Kompetenz. Mittlerweile ist auch dem Letzten klar geworden, dass sich Online-Auftritte in den kommenden Jahren stark verändern werden, selbst wenn noch unklar ist, welchen Stellenwert sie ökonomisch und kulturell einnehmen. Darüber hinaus sind wir auch international ausgerichtet und unterrichten Studierende aus 35 verschiedenen Ländern, von denen viele später im Ausland und nicht in den USA arbeiten werden.

SZ: Brauchen wir künftig überhaupt noch Journalisten - immerhin gibt es viele nicht-journalistische Informationsangebote im Internet, von denen die meisten auch noch kostenlos sind?

Lemann: Die wichtigste Aufgabe von Journalisten ist nach wie vor und mehr denn je das Sammeln relevanter Informationen. Das Internet und speziell die Blogosphäre haben dem öffentlichen Diskurs sehr viele Stimmen hinzugefügt. Durch Blogs gibt es einen Zuwachs an politischen Debatten, allerdings bisher keinen Zuwachs an politischer Tiefe. Journalisten sind dafür da, einen alternativen, kritischen Blick auf öffentliche Angelegenheiten zu werfen. Außerdem ordnen sie die enorme Informationsmasse, mit der wir heutzutage konfrontiert sind und setzen die Informationen in einen Sinnzusammenhang.

SZ: Die - berechtigte - Prognose ist aber doch, dass der Qualitätsjournalismus durch den wachsenden Einfluss von Bloggern künftig überhaupt nicht mehr gefragt sein könnte.

Lemann: Vor nicht allzu langer Zeit glaubte die Blogosphäre noch, sie könne die klassischen Medien einfach ersetzen. Blogger waren der Überzeugung, sie seien nicht nur eine willkommene Ergänzung zu den professionellen Journalisten, sondern ein Ersatz dafür. Mittlerweile hat sich die Koexistenz von Profis und Bloggern etabliert und bewährt. Man findet in den USA vermutlich keine einzige Zeitung mehr, die nicht einen oder mehrere Blogger beschäftigt.

SZ: Welche Strategie steckt dahinter, immer weniger professionelle Schreiber zu beschäftigen?

Lemann: Die Strategie der Zeitungsverlage ist es zunächst herauszufinden, welche Blogger in New Jersey das größte Publikum anziehen und zu einem interessanten Themengebiet schreiben können. Wenn beides gegeben ist, bieten sie ihnen einen eigenen Blog auf der Website an. Inzwischen haben Blogs eher einen lokalen Einschlag und längst nicht mehr diese Weltverbesserer-Attitüde.

SZ: Paul E. Steiger, ehemaliger Chefredakteur des Wall Street Journals und inzwischen Leiter des unabhängigen Redaktionsbüros Pro Publica, gibt sich euphorisch, da durch das Internet neue journalistische Formen des Geschichtenerzählens und der Interaktion entstanden seien.

Lemann: An dieser Sache ist tatsächlich etwas dran, sie hat jedoch eine Kehrseite. Das Positive sind die neuen Präsentations- und Interaktionsformen im Journalismus. Im Internet können Sie alles integrieren: Fotos, Slideshows, Videos, Bewegtbilder, Text. Außerdem gibt es Töne, Links zu anderen Seiten, interaktive Grafiken und hunderte anderer Ausdrucksformen. Man kann Webseiten in Echtzeit aktualisieren, und es gibt etliche Möglichkeiten der Publikumsbeteiligung.

SZ: Die Kehrseite betrifft vermutlich das Finanzierungsdilemma der Zeitungsverlage im Netz, das durch die Finanz- und Wirtschaftskrise noch verstärkt wurde.

Lemann: Genau. Wir müssen noch viel dazulernen und davon ausgehen, dass wir frühestens in zehn Jahren soweit sind zu wissen, wie man journalistische Websites gewinnbringend betreibt. Dann wird sich auch niemand mehr damit zufrieden geben, das Zeitungsprinzip einfach aufs Internet zu übertragen. Websites werden dann vollkommen anders aufbereitet sein, sie werden sich in ihrem Geschäftsmodell völlig von dem unterscheiden, was wir heute kennen. In punkto Finanzierung dürfen wir nicht dem Irrglauben aufsitzen, Auflagenzahlen und Anzeigen seien das Nonplusultra, sondern wir müssen analog dazu Lösungsansätze entwickeln.

SZ: Denken Sie dabei auch an finanziell unabhängige Redaktionsbüros wie Pro Publica?

Lemann: Eine Lösung liegt sicherlich darin, den Journalismus losgelöst von Marktmechanismen zu fördern. Und gemeinnützige Stiftungen, die dahinter stehen, sind ein Szenario, das funktionieren kann. Pro Publica ist ein Redaktionsbüro, das wesentlich von Mäzenen unterstützt wird.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Nicholas Lemann über staatliche Finanzspritzen für Medienbetriebe denkt.

"Wir müssen noch viel dazulernen"

SZ: Sehen Sie auch in der staatlichen Alimentierung des Journalismus einen gangbaren Weg?

Lemann: Ich stehe damit wahrscheinlich alleine auf weiter Flur, aber ich finde, dass direkte Finanzhilfen vom Staat für Medienbetriebe durchaus eine Option darstellen. Man muss aber mit solchen Meinungen vorsichtig sein, vor allem in den USA.

SZ: Warum eigentlich? Es gibt in Großbritannien das erfolgreiche BBC-Modell und auch in Deutschland haben wir ein intaktes öffentlich-rechtliches Mediensystem.

Lemann: Natürlich wäre das eine Lösung. Auch Pro Publica wird öffentlich gefördert, zumindest indirekt. Wenn Sie das aber zu Paul Steiger sagen, hören Sie sofort: "Was, wovon sprechen Sie überhaupt?!" Dabei erlässt die Regierung ihm beziehungsweise seinen Geldgebern eine Menge Steuern und gewährleistet damit die kontinuierliche Arbeit vieler Non-Profit-Organisationen. Oder nehmen Sie National Public Radio, Public Radio International und das Public Broadcasting System: Alle diese Sender sind Quasi-Regierungsorganisationen, aber es würde niemand auf die Idee kommen zu sagen, sie würden von der Regierung kontrolliert - dazu gibt es einfach zu viele Regularien, die dies verhindern. Genauer betrachtet hat also ein Großteil des derzeitigen Journalismus in den USA einen öffentlichen oder quasi-öffentlichen Träger.

SZ: Sie haben viele Jahre lang als Printjournalist gearbeitet. Können sie sich die großen amerikanischen Städte in naher Zukunft ganz ohne Zeitungen vorstellen?

Lemann: Vor 100 Jahren gab es in den meisten Großstädten eine Fülle von Zeitungen. Heute gibt es oft nur noch eine. Zwei Generationen, mich eingeschlossen, sind damit aufgewachsen, sich über die Monopolisierung des Zeitungsmarktes in den Großstädten zu beklagen. Aber viele Leute vergessen, dass das ein schleichender Prozess war. Man kann zwar ein Verschwinden der Zeitung konstatieren, aber das heißt noch nicht, dass es automatisch einen Schwund des Nachrichtenjournalismus gäbe. Man kann etwa die Umwandlung von Printmedien in reine Online-Angebote beobachten. Einige Zeitungen verfolgen neuerdings auch eine Doppelstrategie mit einer Printausgabe und einem Internetauftritt.

SZ: Sie weichen der Frage aus, deshalb noch mal anders gefragt: Ist es nicht das größere Problem, dass Zeitungen und Zeitschriften gerade bei jungen Menschen an Relevanz verlieren?

Lemann: Abonnenten von Tageszeitungen stellten in amerikanischen Großstädten schon immer eine Minderheit dar. Junge Menschen lesen die Zeitung nun mal nicht, um Verlegern einen Gefallen zu tun oder weil sie sich dazu verpflichtet fühlen. Man muss die Leser schon davon überzeugen, dass in der Zeitung etwas steht, was für sie nützlich sein könnte. Wenn man das bei Personen unter 40 schafft, hat man ganze Arbeit geleistet.

SZ: Sehen Sie eine Gefahr für die Demokratie oder die Verfassung einer prosperierenden liberalen Gesellschaft, wenn eines Tages alle gedruckten Zeitungen verschwänden - so wie es Eric Alterman vor ein paar Monaten in einem Essay für den New Yorker beklagt hat?

Lemann: Aus der Perspektive der Demokratie gehört es zu den wichtigsten Aufgaben von Zeitungen, über öffentliche Angelegenheiten zu berichten. Aber mit dieser Aufgabe haben die Verlage noch nie den Löwenanteil ihrer Gewinne gemacht. Diese Funktion war schon immer quersubventioniert. Nichtsdestotrotz gab es ausreichend ökonomischen Spielraum, um diese Rolle von Zeitungen aufrechtzuerhalten. Viele Qualitätszeitungen haben eine Leuchtturmfunktion, daher können wir auf keinen Fall auf sie verzichten.

SZ: Ihr Idealismus in allen Ehren: Aber was nutzt uns der hellste Leuchtturm in der Presselandschaft, wenn allerorten rabiat gespart wird, zum Beispiel bei der Los Angeles Times?

Lemann: Immer, wenn ich nach Los Angeles fliege, greife ich mir die aktuelle L.A. Times-Ausgabe und weiß, was Sache ist. Die Zeitung führt seit längerem eine Debatte über ihre eigene Zukunft, beschäftigt aber - das wird oft vergessen - noch immer knapp 800 Journalisten...

SZ: Von ursprünglich einmal über 1.100 Mitarbeitern ...

Lemann: Die Einschnitte waren natürlich heftig, aber wenn man anderswo hinschaut, etwa zur San Jose Mercury News, ist es noch schlimmer: Dort mussten seit 2001 fast zwei Drittel der Mitarbeiter ihre Schreibtische räumen. Von 400 sank die Zahl der beschäftigten Journalisten auf etwa 170. Auch der San Francisco Chronicle macht mir Sorgen, so sehr, dass ich mittlerweile sage, dass es in der ehemals großen Zeitungsstadt keine Zeitung mehr gibt, die akkurat, umfassend und aktuell informiert. Das ist eine Entwicklung, die wir stoppen müssen.

Nicholas Lemann ist seit September 2003 Dekan der Graduate School of Journalism an der Columbia University in New York. Lemann wuchs in New Orleans auf, wo er im Alter von 17 Jahren seine journalistische Karriere bei dem alternativen Wochenblatt Vieux Carre Courier begann. Nach seinem Studium arbeitete Lemann als Redakteur, später Redaktionsleiter für die Magazine The Washington Monthly und Texas Monthly, war danach Redaktionsmitglied der Washington Post sowie Washington-Korrespondent von Atlantic Monthly und des New Yorker. Lemann ist Autor mehrerer Fachbücher, zuletzt erschien "Redemption: The Last Battle of the Civil War" (2006). Lemann arbeitete u. a. für den Discovery Channel und die BBC , lehrte an zahlreichen Universitäten und schreibt regelmäßig für The New York Times, The New York Review of Books, The New Yorker, The New Republic, Slate, und American Heritage. Er ist Mitglied im Aufsichtsrat des Autorenverbands Authors Guild, des Zentrums für Geisteswissenschaften an der City University of New York, der Gesellschaft der amerikanischen Historiker und ist Mitglied des New Yorker Instituts für Geisteswissenschaften.

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