Zukunft des Jazz:Musik des reinen Moments

Live-Musik oder Konserve? Wird Jazz nur wiedergegeben, büßt er seinen revolutionären und experimentellen Gestus ein. Will das Genre überleben, so braucht es neue musikalische Maßstäbe.

Andrian Kreye

Bevor man sich auf eine Jazz-Debatte einlässt, sucht man erst einmal in der eigenen Gegenwart. Und ja, da gibt es immer wieder diese großen Momente, die nichts damit zu tun haben, ob ein Club ausverkauft war, ob Genregrenzen eingehalten wurden oder ob sich die Musiker in den letzten Jahren weiterentwickelt haben.

Dr. Lonnie Smith beispielsweise versetzte einen im Münchner Hotel Bayerischer Hof in jenen Zustand der Überwältigung, der nicht zu erklären ist, weil ein schlichter Blues auf einer Hammondorgel zunächst einmal nichts Bewegendes verspricht. Ein paar Monate zuvor war es Gunter Hampel, der Pionier des freien Jazz, der beim Jazzlines-Festival mit einem Ensemble aus sehr jungen Musikern jene atemberaubenden Momente kollektiver Improvisationskraft erzeugte, die in der Musiktheorie mangels Erklärungsmodellen "Pulse" heißen.

Doch was nutzt die Schwärmerei, wenn man erst einmal festhalten muss - es gibt für den Jazz derzeit kaum Raum, um sich zu entwickeln. Es fehlt an Clubs, an Plattenverkäufen und an gesellschaftlicher Akzeptanz. Wer das beklagt, der bezieht sich vor allem auf die sechziger und siebziger Jahre, als Modern Jazz nicht nur eine musikalische, sondern auch eine enorme gesellschaftliche Relevanz besaß. Jazz war damals die Popkultur der Gebildeten und Fortschrittlichen. Da unterschieden sich Europa und Amerika nicht sonderlich.

Das allerdings nutzt heute nur wenigen. Sicherlich spielt die Vergangenheit auch im Jazz eine wichtige Rolle. Selbst die radikalsten Formen standen immer in einer Tradition, auch wenn es nicht leicht ist, Ornette Colemans Bezüge auf Charlie Parker zu dechiffrieren. Das breite Publikum entdeckte den Jazz meist auch erst aus einem nostalgischen Moment heraus. Viele Clubs leben genau davon. Das Internet als Echokammer des kollektiven Popgedächtnisses funktioniert heute zusätzlich als Verstärker.

Zeitgeist und Zeitlosigkeit

Da aber stößt die Debatte an erste Grenzen, denn das Fatale an den Musikdebatten der vergangenen Jahre war ja gerade, dass es sich dabei in viel zu vielen Fällen eigentlich um Wirtschafts- und Technologiedebatten handelte. Auch die Frage, ob es schlecht steht um den Jazz, und woran das liegen könnte, dreht sich schnell um solche Fragen, die erst um das Internet kreisen und dann bei der Forderung nach Subventionen landen. Dabei geht es bei jeder Musikdebatte doch eigentlich um - Musik. Das ureigene Problem der Jazzdebatten ist zudem, das sich diese Musik solchen Debatten eigentlich immer verweigert. Debatten stützen sich immer auf Analysen. Der Modern Jazz aber war dezidiert darauf ausgelegt, Analyse unmöglich zu machen und die intellektuelle Debatte in der Abstraktion aufzulösen.

Immerhin hatte der Jazz in den Jahren, die im Rückblick als seine goldenen Jahre gelten, immer auch ein revolutionäres Moment, dem der Jazz kein Forum, sondern ein Ventil lieferte. Der Gestus, mit dem die Pioniere des Bebop Charlie Parker und Dizzy Gillespie gegen das Diktat des Swing und seiner Big Bands antraten, unterschied sich nicht sonderlich vom Furor, mit dem die Vorläufer des Punk Patti Smith und Television gegen den Bombast des Rock der mittleren Siebziger anstürmten. Da trafen sich musikalische Bilderstürmerei und gesellschaftliche Unruhe. Das sorgte in beiden Fällen für eine musikalische Energie, die einen musikalischen Zeitgeist in die Zeitlosigkeit rettete. Allerdings hat es der Modern Jazz seinem Publikum nie leicht gemacht, weswegen die Vergleiche mit dem Pop nicht greifen.

Wie verstörend so ein revolutionärer Moment immer noch wirkt, erfährt jeder der sich heute Ornette Colemans Album "Free Jazz" anhört. Da improvisierten im Dezember 1961 zwei Quartette scheinbar gegeneinander. Was für eine musikalische Höchstleistung hinter der Aufnahme steckt, lässt sich nach vierzig Jahren nur noch theoretisch nachvollziehen. Denn progressiver Jazz ist die Musik, die sich am schwierigsten reproduzieren lässt. Es ist die Musik des reinen Moments. Und gerade deswegen kochen Jazzdebatten immer wieder dann hoch, wenn die Gegenwart vermeintlich keinen Stoff für revolutionäre Momente liefert.

Ordnung in der Kakophonie

Die theoretische Erklärung, warum Ornette Colemans "Free Jazz"-Kollektivimprovisation so brillant war, liegt sicher in der intellektuellen Höchstleistung. Man muss nur ein halbes Jahr in der Jazzgeschichte zurückgehen, um das klarer zu sehen. Der Filmstudent Daniel Cohen hat sich die Mühe gemacht, die Notation von John Coltranes epochalem Saxofonsolo über "Giant Steps" in einem Video zu animieren. Nach dem trügerisch simplen Thema schießen die Kadenzen in einem atemberaubenden Tempo und in immer komplexeren Figuren über die komplexe Akkordfolge. Das bleibt nachvollziehbar. Legt man die 4:33 Minuten von "Giant Steps" auf die acht Musiker und rund 37 Minuten von "Free Jazz" um, kommt man dem Ausmaß der Höchstleistung schon näher.

Weiterhelfen wird einem das nicht, wenn das Ohr instinktiv versucht, Ordnung in der Kakophonie zu schaffen. Und hier schließt sich der Kreis der Mangelwirtschaft: Jazz ist rein situative Musik und kann sich deshalb auch nur live weiterentwickeln. Dabei ist eben nichts so kurzlebig wie ein revolutionärer Moment. Das führt der Sampler "Freedom, Rhythm & Sound" vor, den das Londoner Label Soul Jazz Records gerade veröffentlich hat. Der versammelt auf zwei CDs lauter Stücke, die voller revolutionärer musikalischer Gesten sind.

Der "Attica Blues", den Archie Shepp dem Gefängnisaufstand nach der Erschießung des Black-Panther-Gründers George Jackson widmete, wirkt mit seinen Wah-Wah-Gitarren und seinen Soulrhythmus extrem anachronistisch. Und auch Sun Ras "call and response"-Meditation über die Atomängste des Kalten Krieges funktioniert nur noch im Kontext der Revolutionsromantik.

Romantisiert man den Jazz aber nicht, sondern betrachtet man ihn als zeitgenössische Musik, die letztlich Raum für jedes Experiment lässt, wird man solche Experimente auch finden. Da gibt es beispielsweise ein Trio aus Jazzstudenten in Toronto mit dem Namen Badbadnotgood, die noch keine einzige Platte veröffentlicht haben, sondern ihre Musik über YouTube und Bandcamp vertreiben. Sie haben instinktiv erkannt, wohin das revolutionäre Moment der Musik abgewandert ist und improvisieren auf Kompositionen, die für ihre Generation relevant sind, allesamt aus dem progressiven Hip- Hop von Tyler, the Creator, J Dilla oder Ol' Dirty Bastard. Dieser Jazz klagt neue Maßstäbe ein.

"Ich glaube, ich hatte gerade einen Moment!"

Der Pianist Matthew Tavares sagte kürzlich in einem Interview: "Irgendwann einmal ging es im Jazz um die Künstler und um wirklich solides Handwerk, aber das ist irrelevant geworden. Heute schert sich aber niemand mehr darum, wie gut man sein Instrument spielt." Wobei er sich damit keineswegs gegen die Jazzgeschichte richtet, sondern gegen den Konservatismus im Jazzgewerbe. Denn natürlich spielen Badbadnotgood mit souveräner Virtuosität. Nur dass sie dem Moment mehr Gewicht geben, als der Tradition. Und als Tyler the Creator neulich auf einer Tour im Übungsraum der drei vorbeikam und mit ihnen drauflos improvisierte, als er sich schließlich ans E-Piano setzte und drauflos spielte, sprang er danach auf, wand sich vor Begeisterung und fasste die Essenz des Jazz in einem Begeisterungsruf zusammen: "Ich glaube, ich hatte gerade einen Moment!"

Die Veteranen übrigens kennen die Debatten schon lange. Gunter Hampel sagt beispielsweise, die wirtschaftlich schwierige Lage und die Diskurse zwischen Traditionalisten und Progressiven gebe es seit vierzig Jahren. Es sei auch sicherlich schlimm bestellt um die Infrastruktur des Jazz. Aber es könne nicht nur darum gehen, bessere Strukturen zu schaffen. "Mündige Jazzhörer kriegt man wie im Fußball nur durch echte Begeisterung. Wir müssen da ein neues Bewusstsein schaffen. Und wir müssen uns um den Nachwuchs kümmern. Nicht nur bei den Musikern. Das ist unsere eigentliche Aufgabe."

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