Zukunft der USA:Preis der Kompromisslosigkeit

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Jared Diamond, Professor der Geografie an der UCLA, Bestsellerautor und Pulitzer-Preisträger, macht sich Gedanken um die politische Zukunft seines Landes. (Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

Amerika hat gebildete Bürger, die größte Wirtschaft der Welt und eine stabile Demokratie. Kein Grund zur Sorge? Das glaubten auch schon andere Länder und Gesellschaften.

Von Jared Diamond

Als ich 1968 in Chile lebte, erzählten mir meine Freunde dort oft stolz, dass Chile anders als alle anderen lateinamerikanischen Länder sei. Im Gegensatz zu diesen anderen Ländern habe Chile eine lange demokratische Tradition. Das Militär mische sich nur selten und dann auch nur sehr kurz in die Regierungsgeschäfte ein und seit 1932 sei das überhaupt nicht mehr vorgekommen. Chile sei gesegnet mit einer starken kulturellen Identität, wenig ethnischen Konflikten und einer breiten Mittelklasse. Meinen Freunden zufolge waren Chilenen den Europäern ähnlicher als den Lateinamerikanern: Sie waren besser ausgebildet, aber vor allem wüssten die Chilenen, wie sie sich zu regieren hätten - zusammengefasst wurde das in der Redensart "Wir Chilenen werden niemals Extremisten sein".

Meine Freunde sahen damals nicht voraus, was fünf Jahre später passieren sollte. 1973 stürzte das chilenische Militär Salvador Allende, den damaligen Amtsinhaber in der langen Reihe demokratisch gewählter chilenischer Präsidenten. Allende starb während der Bombardierung des Präsidentenpalastes. Die darauffolgende chilenische Militärregierung unter General Augusto Pinochet stellte neuzeitliche Weltrekorde in der Erfindung neuer sadistisch-sexualisierter Foltermethoden auf, die zu abstoßend sind, um sie in Worte zu fassen. Tausende wurden getötet oder "verschwanden". Hunderttausende wurden ins Exil gezwungen. Diese Regierung begann einen internationalen terroristischen Feldzug, um chilenische Dissidenten im Exil zu töten, sogar in Europa und in den USA. Sie hielt sich 17 Jahre lang an der Macht.

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:Wirkt sich der politische Stillstand negativ auf die USA aus?

Politisch stabil, eine starke nationale Identität und eine breite Mittelklasse. In den USA scheint alles in Ordnung zu sein. Das dachte man in Chile vor Pinochets Putsch auch.

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Amerika ist in einem Zustand politischen Stillstands gefangen, die Bürger sind gespalten

Im Nachhinein kann man sagen, dass sich in Chile schon lange vor dem Putsch zahlreiche Anzeichen der Unruhe zusammengebraut hatten. Der Stillstand zwischen den politischen Parteien - die Wählerstimmen zwischen links, rechts und politischer Mitte waren in etwa gleich verteilt - hatten es verhindert, eine Lösung für Chiles chronische wirtschaftliche und soziale Probleme zu finden. Diese Probleme umfassten eine Landreform, die Eigentumsrechte an den Kupferminen, die Machtkonzentration in den Händen einer oligarchischen Minderheit, eine ungleiche Einkommensverteilung und den Ausschluss der wachsenden urbanen Bevölkerung von der politischen Teilhabe.

Bei all diesen Themen versagten die Parteien, die tief greifenden Uneinigkeiten in der chilenischen Bevölkerung zu überbrücken, sie versagten darin, Kompromisse zu finden und ließen das Parlament in einer Patt-Situation verharren. Die Wirtschaft befand sich in einem desolaten Zustand: Schon während meines Aufenthalts in Chile gab es Lebensmittelrationierungen. Obwohl Allende nur mit einer relativen Mehrheit von 36 Prozent gewählt worden war und obwohl seine Koalition keine der parlamentarischen Kammern kontrollierte, versuchte er dennoch radikale politische und wirtschaftliche Reformen durchzusetzen. Die wirtschaftliche Situation verschlechterte sich dadurch nur noch mehr.

Als das Militär schließlich putschte und eine rechte Diktatur errichtete, erhielt es anfänglich breite Unterstützung von den gemäßigten Chilenen, die frustriert waren von dem jahrelangen Stillstand der Regierung und vom Niedergang der chilenischen Wirtschaft. Moderate Chilenen argumentierten, dass die Militärdiktatur nur eine kurze Übergangsphase sei, um eine funktionierende Demokratie in Chile wiederherzustellen. Bis heute gibt es unter meinen chilenischen Freunden gut ausgebildete Menschen, die die Grausamkeiten der Militärdiktatur immer noch als den einzigen Weg verteidigen, wie Chile dem Stillstand entkommen konnte, den seine demokratisch gewählte Regierung damals verursacht hatte. Sie verehren Pinochet nach wie vor als einen wundervollen Mann, der zu Unrecht verfolgt wurde.

Es ist nicht sehr schwer, weitere Länder zu nennen, in denen der Stillstand der Regierung und die fehlende politische Kompromissfähigkeit zu einer Militärdiktatur führten, zum Zusammenbruch der Demokratie und (in einigen Fällen) zum Bürgerkrieg. Aktuelle Beispiele wären Ägypten oder der Irak. Die lange Liste vergangener Beispiele umfasst die martialische Herrschaft in Indonesien 1957 und dann das Blutbad von 1965, das eine halbe Million Leben kostete; der 1936 explodierende spanische Bürgerkrieg und die Diktatur Francos; und der Stillstand in Österreich, der 1933 zur Dollfuß-Diktatur führte und 1934 zum gescheiterten Nazi-Putsch.

Inzwischen könnte man angefangen haben, über mögliche Parallelen zwischen dem Chile von 1968 und den USA von heute nachzudenken. Einerseits erscheint es undenkbar, dass die USA in eine Diktatur abrutschen könnten. Wie meine chilenischen Freunde damals, sind wir Amerikaner heute stolz auf unsere lange demokratische Tradition und unsere politische Stabilität, die so nur sehr wenige Länder auf der Welt haben. Wir sind gesegnet mit einer starken nationalen Identität und einer breiten Mittelklasse. Wir haben eine hoch diversifizierte Wirtschaft, die größte der Welt, sie umfasst den Abbau von Rohstoffen (vor allem von Öl), die verarbeitende Industrie, Landwirtschaft und technische Innovationen. Unsere Bürger sind hervorragend ausgebildet und seit unserer Unabhängigkeit haben wir gewusst, wie wir uns selbst zu regieren haben.

Andererseits sind auch wir in Amerika, wie zuvor die Chilenen unter Allende, in einem Zustand politischen Stillstands gefangen. Unsere Bürger sind tief gespalten in ihrem Streit über wirtschaftliche, soziale oder politische Fragen - etwa was die Reichweite der Regierungsinterventionen angeht, die Immigration, die Investitionen in Bildung und in die Infrastruktur oder die Ungleichheiten bei Einkommen und Karrierechancen. Unsere Wirtschaft befindet sich in einem desolaten Zustand.

Unsere Politiker sind immer widerwilliger oder unfähiger geworden, Kompromisse zu schließen. Der jüngste US-Kongress hat weniger Gesetze verabschiedet als jeder andere US-Kongress. Unsere gewählten Vertreter konnten sich noch nicht einmal in Themengebieten einigen, die eigentlich unumstritten sein sollten so wie die Ernennung von Richtern und von Regierungsbeamten zweiten Ranges oder die Finanzierung der Bundesluftfahrtbehörde.

Die amerikanische Demokratie wurde wiederholt unterwandert. Zum einen durch parteistrategische Maßnahmen, die darauf abzielten, Wähler, die voraussichtlich die gegnerische Partei bevorzugen würden, von der Registrierung oder der Wahl selbst abzuhalten. Zum anderen, indem Wahlen durch enorme Geldströme massiv verzerrt wurden. Wenn die Vertreter einer Mehrheit von Amerikanern in einem Staat eine dortige Minderheit von Bürgern daran hindern zu wählen, unterscheidet sich das qualitativ gesehen nicht von dem Versuch, jeden in den USA am Wählen zu hindern. Es geht "lediglich" noch darum, den Geltungsbereich eines bereits etablierten Prinzips zu erweitern.

Man mag einwenden, dass das amerikanische Militär, anders als das beim chilenischen, indonesischen oder spanischen Militär der Fall gewesen war, nicht dafür bekannt ist, sich in die amerikanische Politik einzumischen. Ja, das stimmt. Aber, der passende Vergleichsfall wäre hier auch, was sich 1933 in Österreich ereignete, als einfache Bürger sich zunehmend selbst bewaffneten und private Milizen aufbauten. Als dann der österreichische Kanzler Dollfuß die Legislative seines Landes aufhob und eine autoritäre, rechte Regierung einsetzte, bediente er sich nicht der österreichischen Armee, um seine linken politischen Gegner auszuschalten, sondern der Bürgerwehren seiner eigenen bewaffneten Unterstützer.

In dieser Hinsicht könnte die Situation in den USA durchaus als Frühphase eines vergleichbaren Falles angesehen werden. Bereits heute fordern viele Amerikaner das Recht ein, Waffen an Orten zu tragen, an denen das früher undenkbar gewesen wäre (zum Beispiel in Schulen und Behörden).

Schon heute gründen sie Bürgerwehren, die etwa den Zweck haben, die Grenze nach Mexiko zu kontrollieren oder die das eingeforderte Recht schützen sollen, sein Vieh auf öffentlichen Ländereien weiden zu lassen. Noch einmal: Wenn Bürgerwehren ihre Waffen schon für solche Zwecke einsetzen, dann geht es "lediglich" noch darum, den Geltungsbereich eines bereits etablierten Prinzips zu erweitern, damit Waffen auch für andere Zwecke eingesetzt werden können.

Die Einzigen, die die amerikanische Demokratie bedrohen, sind die Amerikaner

Kurz vor dem Putsch von 1973 gab es in Chile eine Redensart: "Wir Chilenen werden niemals Extremisten sein." (Foto: Prensa Latina/AFP)

Bei der Frage, was die amerikanische Demokratie bedroht, konzentrieren wir Amerikaner uns heute auf die falschen Dinge. Wir sind besessen von den Bedrohungen, die von außen kommen: von Terroristen und Dschihadisten und aus anderen Ländern. Aber auch wenn Terroristen und Dschihadisten und andere Länder uns weiterhin Probleme bereiten werden, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sie die amerikanische Demokratie zerstören, realistisch betrachtet bei null.

Die Einzigen, die die amerikanische Demokratie tatsächlich bedrohen - sind wir Amerikaner. Wenn die amerikanischen Politiker damit weitermachen, dem Druck der amerikanischen Extremisten nachzugeben, Kompromisse strikt abzulehnen und im Stillstand zu verharren, könnte es sein, dass die Mehrheit der anständigen Amerikaner in ihrer Frustration eine autoritäre Regierung als die einzige Möglichkeit ansehen würde, den politischen Stillstand zu lösen - als das kleinere Übel, das toleriert werden muss.

Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass politische Meinungsverschiedenheiten immer in einem Kompromiss gelöst werden sollten, denn es gibt zwei Situationen, in denen die Akzeptanz von Kompromissen sehr unwahrscheinlich ist. Die eine Situation ist die, in der die gegnerischen Parteien beide damit rechnen, dass sie sich durchsetzen werden und denken, dass es deshalb keinen Bedarf für einen Kompromiss gibt. In Chile 1973 rechnete das Militär - richtigerweise - damit, dass es einen bewaffneten Konflikt schnell gewinnen würde; Allendes glühendste Unterstützer rechneten - fälschlicherweise - damit, dass er seine Politik weiterverfolgen könne ohne einen Militärputsch zu provozieren.

Die andere Situation, die mit Kompromisslosigkeit assoziiert wird, ist die, in der die gegnerischen Parteien ihre Ideale als nicht verhandelbar erachten und für diese Ideale sterben würden. Als Großbritannien 1940 nach Hitlers Sieg über Frankreich sich bei der erwarteten deutschen Invasion militärisch im Nachteil sah, diskutierte das britische Kabinett darüber, ob es einen Kompromiss mit Hitler erwägen sollte - beispielsweise, indem man Malta und Gibraltar aufgab im Austausch für ein Friedensabkommen. Winston Churchill überzeugte sein Kabinett irgendwann davon, keinen Kompromiss einzugehen. Im Nachhinein erachten wir es als richtig, dass Churchill den Kompromiss ablehnte.

Keines der Themen, die die Amerikaner derzeit spalten, ist es wert, dafür zu sterben

Aber keine dieser beiden Situationen, die die Ablehnung eines Kompromisses rechtfertigen, trifft auf die Lage in den USA heute zu. Amerikaner sind zu beinahe gleichen Teilen gespalten zwischen liberalem und konservativem Lager; keine der beiden Seiten hat Grund zu der Annahme, einen raschen Sieg zu erzielen, falls es zur Gewalt kommen sollte. Keines der Themen, die die Amerikaner derzeit spalten, scheint mir in seiner Bedeutung an den Fortbestand der amerikanischen Demokratie heranzureichen. Unsere Themen sind es nicht wert, dafür zu sterben, während für die Briten von 1940 die Folgen einer Übernahme durch die Nationalsozialisten es tatsächlich wert waren, ihr Leben zu riskieren.

Die anständigen Amerikaner sollten von der jüngsten Geschichte lernen. Ja, es wird schmerzvoll sein, lieb gewonnene politische Grundsätze für Kompromisse aufzugeben, das gilt für Republikaner wie für Demokraten. Aber man sollte sich bitte vor Augen halten, dass die sadistischen Foltermethoden der chilenischen Militärregierung und die Opferzahlen des spanischen Bürgerkriegs sehr viel schmerzhafter waren.

Jared Diamond ist Professor für Geografie an der UCLA und Bestsellerautor. Seine Fachgebiet ist der Vergleich vom Aufstieg und Fall vergangener und heutiger Gesellschaften. Für "Arm und Reich " wurde er mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Deutsch von Luise Checchin

© SZ vom 12.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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