Süddeutsche Zeitung

Zeruya Shalev: "Schicksal":Das Leben ist ein Autobahnstau

Ein Roman mit Übergepäck: Zeruya Shalev entblättert in "Schicksal" ein Familiengeheimnis.

Von Nils Minkmar

Die schon viele Jahrzehnte andauernde, komplizierte politische Lage in Israel befördert die Literatur des Landes in eine einzigartige Position: Hier wird freimütig die Geschichte der Gegenwart erzählt, verarbeitet und mit den Mitteln der Sprache gedeutet. Ob es sich um politische Polarisierung, die Beziehungen zwischen Religion und offener Gesellschaft, den Kampf gegen den Terror oder die Auseinandersetzung mit den Traumata der jüngsten Geschichte handelt - in Israel sind diese Themen mit den Mitteln von Kunst und Kultur früher als anderswo adressiert worden. Das liegt auch an der verfahrenen innenpolitischen Lage unter einem umstrittenen, aber unüberwindbaren Regierungschef. Erst in diesen Tagen scheint sich etwas daran zu ändern.

Wo Parteien und Medien einigermaßen ratlos bleiben, richtet sich die Aufmerksamkeit in besonderem Ausmaß auf die kulturellen Hervorbringungen Israels, auf Romane, Serien und Filme. Darin hofft man, die Komplexität einer Situation zu erkennen, zu der es zu viele einfache Meinungen gibt. Autorinnen und Autoren werden zu Vertretern der israelischen Zivilgesellschaft, und weil Israel als politisches Laboratorium gilt, in dem Entwicklungen westlicher Demokratien früher als in den USA und Europa zu betrachten sind, ist ihre Reputation ungleich größer, als es der Buchmarkt für zeitgenössische hebräische Literatur vermuten lassen würde.

Diese prominente symbolische Rolle hat auch einen Preis. Denn wenn Literatur noch mit allen möglichen anderen Funktionen beladen ist, kommt jedes Wort auf die Goldwaage, die aktuellen Themen drängen sich in die Geschichten, und die Dringlichkeit der Nachrichten von Krieg und Trauer, Verlust und Mut entwickelt eine ganz eigene Energie, gegen die es die Belletristik mit ihren langen Rhythmen und Zyklen manchmal schwer hat. Dann ist literarisches Übergepäck anzumelden, wie im Falle des neuen Romans von Zeruya Shalev: Der Koffer lässt sich nicht ganz schließen.

Über seine Zeit mit der Lechi spricht der Vater nie, er wird ein versehrter Mann, ein Sadist

Auf mehr als vierhundert, von Anne Birkenhauer elegant übersetzten Seiten wird die Geschichte von zwei Frauen, Rachel und Atara, erzählt, ihre Verbindung allmählich enthüllt. Es ist eine literarische Archäologie familiärer Lügen, Geheimnisse und Gewalttaten. Das Buch gerät auch zur historischen Pädagogik: Die greise Rachel war bei der Lechi, einer heute nur noch wenigen bekannten Widerstandsorganisation gegen die britische Mandatsherrschaft in Palästina.

Während die Gefallenen der Haganah, der bekannteren, heroischen und amtlichen Befreiungsbewegung, unter großer öffentlicher Anteilnahme bestattet werden, müssen die klandestinen Kämpferinnen und Kämpfer der Lechi ihre Toten im Licht von Motorradscheinwerfern beisetzen - ein Schmerz und eine Demütigung, die Rachel noch im hohen Alter zusetzen. Die Lechi fügt sich schlecht in die heroische Nationalgeschichte Israels ein, denn für diese Gruppe waren die Briten der Feind, den sie auch dann noch bekämpfte, als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war und es galt, die Kräfte gegen das nationalsozialistische Deutschland zu vereinen.

In diesen Zeiten hat Rachel Ataras Vater getroffen. Was sie gemeinsam erleben, wird zum großen Geheimnis, zum Vorleben. Später, als Familienvater, müssen wir ihn uns als versehrten Mann vorstellen, der zwar sozial reüssiert, ein anerkannter Wissenschaftler, aber auch ein brutaler Mann und ein häuslicher Sadist ist. Von seinen beiden Töchtern zieht er die eine der anderen vor, reißt dem verschmähten Kind die Haare aus, verweist sie stundenlang des Hauses und kann seinen Zorn nur mit Mühe beherrschen. Aber über seine Zeit mit seiner ersten Frau Rachel, bei der Lechi, spricht er nie und erzählt auch nicht, dass es schon einmal eine Atara in seinem Leben gab.

Ein Haus am Wadi, eine epische Kulisse für den Jammer einer ausgepowerten Ehe

Seine Tochter Atara gründet später selbst eine Familie, eine erste und dann eine zweite. Sie ist Architektin und soll die Restaurierung eines schicken alten Hauses leiten, das eine Amerikanerin und deren Mann gekauft haben ­- das ist Alex, der dann Ataras zweiter Mann wird. Zur Erzählzeit des Romans ist aber auch diese zweite Familiengründung in Ataras Leben schon Geschichte. Ihre Kinder sind erwachsen, werden ihr fremd. Und ihr Mann Alex hat sich von dem anziehenden, aufmerksamen Partner und Liebhaber zum mürrischen Frührentner entwickelt, der der Welt bevorzugt im Modus des Meckerns begegnet.

Sie wohnen in Haifa und damit in einer Umgebung, die von kultureller Vielfalt und nachbarschaftlicher Nähe zu Araberinnen und Arabern geprägt ist. Ihr Haus hat Blick aufs Meer und steht in der Nähe eines Wadi, eines geheimnisvollen, von der aus der Bibel bekannten Fauna bewohnten, alten Flussbetts - eine epische Kulisse für den Jammer einer ausgepowerten Ehe. Atara versucht nun, mit Rachel in Kontakt zu treten, mehr zu erfahren über ihren Vater und dessen Zeit, auch über die Geschichte, die Rachel und ihn verbindet.

Es sind Ataras Autofahrten zu Rachel und wieder retour, in denen das Buch zu sich selbst kommt. Sie braucht lange: Das Motiv des unüberwindlichen Autobahnstaus ist meisterlich eingewoben, verdeutlicht den zunehmend unerträglichen persönlichen und familiären Stillstand. In ihrem Wagen ist Atara allein, obwohl sie telefonieren und SMS schreiben und lesen kann - aber das Pendeln zwischen Haus, Büro und Rachel stellt eine Phase des Übergangs dar, in der sie berührend über ihr Leben, die Liebe und die historische Dimension ihrer Familie reflektiert.

Das Buch könnte sich darauf konzentrieren, die ungute Entwicklung von Ataras zweiter Ehe zu erzählen, in der zu Joav und Avigail, den beiden Kindern aus den jeweils ersten Verbindungen der Eltern, noch ein Sohn geboren wird, der den himmlischen Namen Eden bekommt. Die schwierige Beziehung der Kinder untereinander, das seltsame Haus, die sich allmählich entfaltende, nie mehr völlig verschwindende schlechte Laune - sie ergeben in Zeruya Shalevs gnadenloser Schilderung einen beeindruckenden Roman über Momente und Illusionen einer postmodernen Patchworkfamilie.

Aus sicher guten, aber dem Werk nicht zuträglichen Gründen musste noch mehr in das Buch, also noch die frühe Geschichte des vergessenen Widerstands, die Geschichte der Rachel, eine Auseinandersetzung mit Menschen, die irgendwann zur Religion finden, damit aber auf dem Holzweg sind, und leider auch alle möglichen Gedanken zur zyklischen Wiederkehr vergleichbarer Erfahrungen, etwa mütterlicher Trauer, die vor biblischer Kulisse leicht mal ins seltsam Feierliche verrutschen. Das wird verstärkt durch Kapitelüberschriften, die ein Pathos suggerieren, das sich im Folgenden glücklicherweise nicht durchgehend findet: "Wofür hast Du gelebt, Rachel?"

In "Schicksal" steckt - besonders in der Szene des so banalen Abschieds von Alex - mindestens ein zeitgenössisches Meisterwerk, das aber, wie in den Restaurierungsarbeiten, die Atara an diversen Immobilien vornehmen muss, von Leserinnen und Lesern erst mühsam freigelegt werden muss.

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