Zeitung und Internet:Wir brauchen eine Debatte

Nicht das Internet ist der Feind des Journalismus, sondern das Kalkül. Vom Pulsschlag des Textes: Ein Plädoyer für ein Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus.

Frank Schirrmacher

Am vergangenen Samstag wurde der Journalist Frank Schirrmacher, 48, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in Kassel mit dem Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache 2007 geehrt. In seiner Dankesrede, die wir in Auszügen drucken, setzt sich Schirrmacher kritisch mit Inhalt und Funktion des Internets auseinander und warnt davor, Zeitungen einzig nach Rendite zu berechnen.

Journalisten werden in amerikanischen Filmen gerne mit einem Stift hinter dem Ohr porträtiert. Kein besonders imposantes Werkzeug. Doch hat es ausgereicht, von den ersten Ritzungen in Ton, die die Höhlenmenschen ausführten, bis zu Einsteins Relativitätstheorie alles auszudrücken, was wir sind. Und es reichten Stift und Papier um, wie Joanne K. Rowling, von der Sozialhilfeempfängerin zur reichsten Frau Englands aufzusteigen.

1994, das ist dreizehn Jahre her, tauchte zum ersten Mal das Wort "World Wide Web" auf. Was wird in dreizehn Jahren sein? Manche glauben, der Prozess sei faktisch abgeschlossen und differenziere sich bloß noch im Detail. Das halte ich für unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass die technologische Revolution sich überhaupt jetzt in der Gesellschaft selbst bemerkbar macht. Nachdem die Werkzeuge verändert wurden, verändern sich die Menschen.

Lesen unnötig?

Die erste Generation, die seit ihrer Geburt vom Internet geprägt wurde, macht demnächst Abitur. Gleichzeitig steigt der Anteil an jungen Menschen, die bekennen, gar nicht mehr zu lesen, dramatisch an. Und man wende nicht ein, dass der Mensch auf den Vorgang des Lesens nicht verzichten kann. Das Gegenteil ist der Fall. Das Netz ist auch ein Medium, das in steigendem Maße Nicht- oder Fastnichtmehrlesen ermöglicht, und wer das nicht glaubt, schaue sich die Verfilmung von Archiven bis zu Gebrauchsanweisungen auf Youtube an.

Jetzt aber verändern sich die Gehirne. In welchem Ausmaß das geschieht, ist selbst der Forschung noch nicht klar: Fest steht, dass der ikonographische Extremismus, dem die Jungen und Jüngsten im Internet ausgesetzt sind, wie eine Körperverletzung wirkt.

Die Welt, die gerade nachwächst, wird schon Bilder und Filme gesehen haben, von denen wir uns keine Vorstellung machen. Mag sein, dass die Warnung vor jugendgefährdenden Schriften und Filmen in der Vergangenheit oft prüde und unrealistisch war. Doch was Kinder und Teenager heute unkontrolliert sehen können, ist pornographischer und gewalttätiger Extremismus, wie ihm niemals zuvor eine Generation ausgesetzt war, und gegen den man sich, zumindest als Jugendlicher, nicht immunisieren kann.

Seelischer Extremismus

Die Sprache dieser ersten Internetgeneration ist beängstigend roh, sie kommt aus den Bildern und handelt von den Praktiken, die diese Protagonisten in irgendwelchen Nischen gesehen haben. Bilder, die jeder, der sie gesehen hat, nie wieder vergessen kann, es sei denn um den Preis vollständiger Abstumpfung.

Wir riskieren, die wenigen Kinder, die unsere Gesellschaft in Zeiten des demographischen Wandels hat, mit seelischem Extremismus zu programmieren - wenn wir nicht bald eine Debatte über pornographische und kriminelle Inhalte im Internet beginnen. Und wer die Infektionsausbreitung verfolgen will, braucht nur zu zählen, wie viele Tote neuerdings auch in Nachrichtensendungen oder Illustrierten gezeigt werden.

Wir brauchen eine Debatte

Dies ist kein Kulturpessimismus. Gerade diese Beispiele zeigen, warum die Zeitungen gebraucht werden und was geschieht, wenn man die vermittelnden Instanzen der großen Zeitungen ignoriert. Es gibt keine schönere Herausforderung als diese: Nicht nur das Internet zu erobern, sondern auch gegenzuhalten und Optionen anzubieten.

Eine Option ist die Tageszeitung selbst, die von manchen allzu voreilig totgesagt wird - und zwar gerade von jenen mit Vorliebe, die von der Ausbeutung fremder redaktioneller Inhalte leben. Fast alles, was im Netz auf Dauer ernst genommen wird, hat seine Urquelle in den Zeitungen. Die Umlaufgeschwindigkeit von echten und halbseidenen Nachrichten im Internet ist enorm. Auf den ersten Blick kann man sie nicht voneinander unterscheiden, sie tauchen auf und sind wieder verschwunden.

Unverzichtbar: die Zeitung

Die Zeitung liefert eine Haltbarkeit von mindestens 24 Stunden, und in ihren Kommentaren, Rezensionen und Kritiken will sie sogar vor der Nachwelt bestehen. Im Vergleich zum Internet ist sie das verzögernde Moment in der gesellschaftlichen Kommunikation. Deshalb wird sie immer unverzichtbar sein.

Ein dänischer Kollege, Chefredakteur einer der großen Zeitungen des Landes, beschrieb das einmal anhand des Umgangs der Schreibenden mit ihren eigenen Texten. "Im Internet", so erzählte er, "hängen die Redakteure weniger an ihrem Text. In der Zeitung muss ich um jedes Redigat stundenlange Diskussionen führen." Es gibt nur eine logische Konsequenz: Zeitung und Internet sind konstitutiv für den, der ein aufgeklärtes Leben führen will.

In Deutschland gibt es den "Qualitätsjournalismus". Gemeint ist ein Journalismus der großen Zeitungen, der nicht nur auf Verlässlichkeit setzt, sondern auch einer redaktionellen Ausstattung bedarf, die diese Verlässlichkeit sichert. Zeitungen sind Qualitätszeitungen, weil sie auch dort analysieren, wo vorläufig kein "Markt" im herkömmlichen Sinn existiert, in der Latenz, in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Tiefenschichten des eigenen Landes und der globalen Gemeinschaft.

Wer glaubt, dass sich, wie in Amerika gesehen, Redaktionen von Zeitungen einzig nach Rendite rechnen sollten - womöglich einer Rendite, durch die ein Kaufpreis kompensiert werden soll - wird erleben, dass die Zeitung ihr Denken, ihre Kreativität und Marktstellung verliert. Das kann - das sei jenen gesagt, die in ihre Kalkulation schon den Qualitätsabbau einplanen - sehr schnell gehen.

Eine Zeitung, die einmal aus dem Taktschlag gerät, deren Temperament gebremst und deren geistige Risikobereitschaft entmutigt wird, eine Qualitätszeitung, deren Besitzer einmal die Drehschrauben ansetzen, um zu sehen, wie weit man drehen kann - diese Zeitung verliert auf Dauer ihre Seele. Und es ist, wie man in England, Schweden, Finnland, Amerika, leider auch in Frankreich beobachten kann, praktisch unmöglich, ihr diese Seele jemals wiederzugeben.

Verlässliche Stimmen im Chaos

Ich wundere mich manchmal über die Verzagtheit in manchen Chefetagen. Die großen, anerkannten Zeitungen haben, was alle anderen wollen: Autorität. Und wenn sie beherzt das Internet als Ergänzung begreifen, gewinnen sie die Zukunft, die die Pessimisten ihnen ausreden wollen.

Jeder, der Augen hat zu sehen, wird erkennen, dass das nächste Jahrzehnt das Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus sein wird; er schafft die Bindungskräfte einer medial disparaten Gesellschaft. Schon heute merken wir, dass die Durchschlagskraft, die der einzelne Artikel entfaltet, trotz Medienkonkurrenz ungleich größer ist als noch in den achtziger und neunziger Jahren. Das hat damit zu tun, dass in einem kommunikativen Chaos die verlässlichen Stimmen besser durchdringen.

Die, die sich nicht anstecken lassen, die ihre Qualität, also ihre Inhalte, unverändert lassen, werden sein, was diese Gesellschaft dringender benötigt denn je: der geometrische Ort, an dem die Summe des Tages und der Zeit gezogen wird.

Es gibt allerdings in Deutschland, anders als in allen anderen Staaten Europas, eine Asymmetrie, die allen Zeitungen zu denken gibt. Je stärker der öffentlich-rechtliche Rundfunk, also ARD und ZDF, ins Internet ausgreift, desto bedrohter werden die Zeitungen.

Die öffentlich-rechtlichen Systeme haben begonnen, im Internet zu veröffentlichen; und das mit einem Etat im Rücken, der dem Staatshaushalt eines baltischen Landes entspricht. Sie verfassen neuerdings Rezensionen im Internet, Kommentare und Tagebücher.

Noch ist es nicht soweit. Doch wenn diese gebührenfinanzierten Angebote weiter ausgebaut werden, sind die Zeitungen wirklich bedroht. Wir sind Freunde eines Qualitätsjournalismus im Fernsehen, aber Gegner quasi staatlich finanzierter Aufschreibesysteme. Gegen deren "Texte" hätten die unabhängigen Zeitungen auf Dauer keine Chance.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: