Im November vergangenen Jahres erschien ein großformatiges Buch im Leipziger Spector Verlag, "Das Jahr 1990 freilegen". Es versammelt auf sechshundert Seiten Texte und Bilder aus dem Jahr der Wiedervereinigung, unter anderem Fotos von Ute Mahler und Anselm Graubner, Texte von so unterschiedlichen Autoren wie Volker Braun, Annett Gröschner und Kurt Biedenkopf, darüber hinaus Zeitschriftenwerbung für die ersten Mobiltelefone und die Aufnahme eines verblüfften Michail Gorbatschow, der ein solches auf einer Telekommunikationsmesse in der Hand hält.
Neben vielen Entdeckungen, die der Herausgeber Jan Wenzel zusammengetragen hatte, verblüffte eine am meisten: Die Aufzeichnungen eines knapp vierzigjährigen westdeutschen Autors, der im Januar 1990 nach Dresden gezogen war, um das letzte Jahr der DDR mitzuerleben und mitzuschreiben: hellsichtig, melancholisch, stilistisch brillant. "Das letzte Jahr" hieß dann auch das 1992 im Berliner BasisDruck Verlag erschienene Buch. Seither fehlte vom Autor jede Spur.
Zumindest war es Jan Wenzel und seinen Mitarbeitern bei Spector Books nicht gelungen, diesen Martin Gross ausfindig zu machen. In Berlin wusste man nichts mehr von ihm, alle anderen Kontaktversuche liefen ins Leere. Selbst als "Das Jahr 1990 freilegen" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, meldete sich niemand, obwohl Gross' Aufzeichnungen, wie Wenzel sagt, "das Rückgrat des Bandes" bilden und dem Autor auf der letzten Seite zudem in Form eines Briefes ausführlich Dank abgestattet wird.
Wollte Gross nicht gefunden werden? War er womöglich tot? Durch einen Zufall und einige Telefonanrufe konnte er nun schließlich doch ausfindig gemacht werden, an einem von München oder Berlin aus gesehen durchaus entlegenen Ort mit dem schönen Namen Bienenbüttel.
Am Telefon hatte Gross gesagt, er sei sehr überrascht, dass man ihn suche, war aber gleich zu einem Treffen bereit, bot sogar an, den Besucher vom Bahnhof in Uelzen abzuholen, man müsse den Termin nur mit den Schulterminen des Flüchtlingskindes abstimmen, dem er regelmäßig bei den Hausaufgaben helfe. Man wählt dann doch das Auto und viele, viele Kilometer Landstraße am Rand der Lüneburger Heide. Hinter Schwerin führt der Weg durch rote Backsteindörfer, die aussehen wie aus der Landlust. Hin und wieder nur wird die Idylle von Anti-Bill-Gates-Plakaten geschmälert.
Damals wunderte er sich, als er "Das letzte Jahr" in der Abteilung für Zeitgschichte einsortiert fand
In Bienenbüttel selbst sind auf den ersten Blick immerhin keine Impfgegner auszumachen. Martin Gross, inzwischen 68 Jahre alt, öffnet die Tür seines Hauses, hell ist es hier drinnen und nach vorne hinaus bietet sich ein weiter Blick über Felder und Pferdeweiden. Auf der Rückseite liegt ein großer Garten mit Teich und Trauerweide, über dem Wasser kreuzen Schwalben, im Kirschbaum hockt die Wacholderdrossel. Manchmal, so Gross, lässt sich sogar ein Eisvogel blicken.
Für den Autor oder ehemaligen Autor, das steht zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest, ist die Interviewsituation ungewohnt, gänzlich ungewohnt sogar, denn auch als 1990 sein Roman "Ferne Nähe" bei Rowohlt erschien und zwei Jahre später "Das letzte Jahr", war niemand gekommen, ihn zu befragen. Es hatte zu "Das letzte Jahr" überhaupt nur zwei Rezensionen gegeben, wobei eine, wie Gross sagt, nicht zählt, weil sie in der Tageszeitung erschienen war, und die Tageszeitung hatte bereits mehrere der Reportagen abgedruckt, die später in sein Buch Eingang finden sollten.
Gross ist als Autor nicht nur schnell von der Bildfläche verschwunden, er war auch spät erst als solcher in Erscheinung getreten. 1952 im Schwarzwald geboren, floh er Ende der Sechzigerjahre vor der Enge des konservativen Elternhauses nach Berlin, beendete dort die Schule, studierte an der FU Germanistik und blieb als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut. Erst Mitte der Achtzigerjahre begann er literarische Texte zu schreiben und zu veröffentlichen. Nachdem Rowohlt auf ihn zugekommen war und der erste Roman unter großem Zeitdruck entstand, arbeitete er nach seinem Jahr in Dresden intensiv an der Komposition von "Das letzte Jahr", überlegte, wie weit er den Erzähler in den Vordergrund treten lassen sollte und inwieweit Orte und Personen anonymisiert werden mussten.
Entstanden ist eine Mischung aus Briefen, Tagebucheinträgen, Reportagen, die sich gleichwohl wie aus einem Guss liest. Vielleicht aber war diese Mischform auch ein Grund für die geringe Resonanz des Buches. Als Leser des Jahres 1992 war man es, anders als heute, nicht gewohnt, dass Dokumentarisches und Literarisches derart miteinander verschmolzen wurden wie in "Das letzte Jahr". Gross selbst sah es eher auf der literarischen Seite, und wunderte sich, als er sein Werk damals in einer Buchhandlung in der Abteilung für Zeitgeschichte einsortiert fand.
Im Nachhinein staunt er über die Offenheit und das Vertrauen, das ihm von seinen Gesprächspartnern 1990 entgegengebracht wurde, über den enormen Gesprächsbedarf, der bestand. Seine Frau hatte Verwandtschaft in Dresden, so ergaben sich erste Kontakte. Gross schrieb dann auch für die 1991 eingestellte Dresdner Tageszeitung Union. Und er schrieb in "Das letzte Jahr" über das Innenleben dieser Zeitung, den Eigentümerwechsel nach der Wende, die Umbrüche in der Redaktion. Wie überhaupt die allumfassende Umwälzung des Jahres 1990 in kaum einem Zeitdokument so anschaulich wird, so unmittelbar greifbar wie in "Das letzte Jahr".
Die Art und Weise, wie das Buch geschrieben worden sei, habe dann in Ost und West aus unterschiedlichen Gründen zu Abwehrreaktionen geführt, sagt Gross heute, und sieht darin einen Grund, warum es damals praktisch nicht beachtet wurde. Im Osten habe man Schwierigkeiten mit der Ironie des Buches gehabt, sie womöglich sogar als höhnisch empfunden. Westdeutschen hingegen, zumindest dem linksintellektuellen Milieu im Umfeld von Martin Gross, ging die Kritik am kapitalistischen System, das sich den Osten so hemmungslos einverleibt, nicht weit genug.
Abgeklärte Buchleute von heute würden sagen: Bei dem miesen Cover muss man sich nicht wundern, dass keiner das Buch kaufen wollte.
Die eigentliche Frage jedoch, die uns nach Bienenbüttel geführt hat, ist jene: Wieso hört ein so begabter Autor, ein so wacher, hochsensibler Beobachter auf zu schreiben oder, was ja nicht dasselbe ist, zu veröffentlichen? Muss es für jemanden wie Martin Gross nicht innere Notwendigkeit, ja Lebensnotwendigkeit sein, zu schreiben? Das ist durchaus der Fall, sagt Gross, er habe schon immer geschrieben, nur im Schreiben würde das Leben für ihn überhaupt Gestalt annehmen. Die Resonanz auf sein Buch aber, besser gesagt die totale Ignoranz, auf die "Das letzte Jahr" traf, habe ihn damals völlig deprimiert und entmutigt.
Gleichzeitig mit dem Erscheinen wurde sein Sohn geboren, seine Frau war auf dem besten Weg, Germanistik-Professorin zu werden, also dachte er nicht mehr an eine literarische Karriere, sondern kümmerte sich in den ersten Jahren um die Erziehung des Kindes, ging von 1998 an dann immer wieder für ein paar Monate an Universitäten in Russland und Indien, um dort Deutsch zu unterrichten und als akademischer Projektmanager zu arbeiten, Förderanträge zu stellen und russische und indische Unis mit europäischen zu vernetzen.
Dort bekam er viel zu sehen. Gerade als es in Russland um Projekte im sozialwissenschaftlichen Bereich ging, besuchte er Psychiatrien, Gefängnisse und Obdachlose auf Mülldeponien. Und er schrieb immer mit.
Eingeflossen sind diese Erfahrungen inzwischen in einen Roman, der Bienenbüttel noch nicht verlassen hat, genauso wenig wie ein zweiter Roman, der sich mit einem erfolglosen Mann befasst, einem, der zur Zeit James Cooks das sagenhafte Südland tatsächlich entdeckt, seine Entdeckung aber nicht zum eigenen Vorteil nutzen kann.
Gescheiterte Lebensentwürfe waren 1992 gewiss nicht das "richtige" Thema
Er selbst habe sich, während er diesen Roman schrieb, als erfolglosen Mann betrachtet, sagt Gross. Alles in seinem Leben sei ihm bloß irgendwie zugefallen, sei ihm praktisch geschenkt worden, allen voran die existenzielle Erfahrung, ein Kind großzuziehen und mit Russland ein Land kennengelernt zu haben, das viel dramatischer in den Epochenumbruch verwickelt war als die DDR.
Nur der literarische Erfolg, könnte man hinzufügen, das, was man eine literarische Karriere nennt, ist ihm in der Tat nicht zugefallen. Für eine solche muss man die richtigen Kanäle bespielen und das richtige Thema finden. Der Untergang der DDR und die gescheiterten Lebensentwürfe, mit denen sich Gross in "Das letzte Jahr" befasst, waren 1992 gewiss nicht das richtige Thema.
Ohnehin, so könnte man meinen, ist jemand, dessen Talent darin besteht, zu beobachten und zuzuhören, und sei es der Wacholderdrossel in Bienenbüttel, für dergleichen Karrieren nicht eben prädestiniert.
Was nicht heißt, dass man solche Leute nicht suchen sollte. So wird Jan Wenzel von Spector Books wenigstens später berichten, der ganze Verlag sei in Jubel ausgebrochen, als das Phantom namens Martin Gross mit einem Mal Gestalt angenommen habe.