Zeitgeschichte:Die verlorene Heimat der Großmutter

Die Vertreibung der Griechen von der Schwarzmeerküste nach dem Ersten Weltkrieg.

Von Stephan Wackwitz

Die gewaltsame Umsiedlung ganzer Völker unter Inkaufnahme genozidartiger Begleitumstände hat seit der babylonischen Gefangenschaft des Volkes Israel als die extremste Form tyrannischer Gewaltanwendung gegolten. Erst das Deutsche Reich unter Adolf Hitler und die Sowjetunion unter Josef Stalin haben bewiesen, dass man mit unerwünschten Bevölkerungsgruppen sogar noch barbarischer umgehen kann. "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?" soll Adolf Hitler 1939 gesagt haben, und wenn die Historizität dieses Zitats in letzter Zeit auch mit Gründen infrage gestellt worden ist, so bezeichnet es Hitlers genozidale Logik ebenso genau wie das Stalin zugeschriebene Diktum, der Tod eines einzelnen Mannes sei eine Tragödie, der Tod von Millionen aber nur eine Statistik.

Die Zwangsumsiedlungen auf dem Balkan und im Nahen Osten seit den Balkankriegen 1912/13, in der Folge des Ersten Weltkriegs und während des griechisch-türkischen Kriegs 1919 bis 1922 wurden von den Despotien des letzten Jahrhunderts als Vorbild ihrer Untaten begriffen. Die Herrschaftsmentalität, die zum Holocaust und zum Holodomor führte, ist bereits zu Beginn des Jahrhunderts auf der historischen Bühne erschienen. "Ethnische Säuberungen" begleiteten die Auflösung des Osmanischen Reiches, die Entstehung der balkanischen Nationalstaaten und der modernen Türkei. Den Auftakt bildete die Umsiedlung der Moslems aus dem sich nationalstaatlich sortierenden Balkan.

Altes Ordu

Als um 1925 diese Aufnahme vom griechischen Viertel der Stadt Ordu an der südlichen Schwarzmeerküste entstand, waren die Bewohner schon vertrieben.

(Foto: Archiv Mirko Heinemann / Ch. Links Verlag)

Der völkermörderische Höhepunkt wurde mit den Todesmärschen erreicht, auf die "jungtürkische" Generäle die armenischen Untertanen der "Hohen Pforte" schickten. Dem letzten Kapitel dieses Tragödienclusters widmet sich das Buch "Die letzten Byzantiner" von Mirko Heinemann aus einer familiengeschichtlichen Rechercheperspektive. Sein Thema ist die gewaltsame Vertreibung der 1,2 Millionen kleinasiatischen Griechen im Zuge der Formierung des türkischen Nationalstaats, der durch den Friedensvertrag von Lausanne 1923 international anerkannt wurde und seinerseits 400 000 Türken aus Griechenland in seinen Grenzen ansiedelte.

Heinemanns erzählerischer und forschungspraktischer Focal Point ist die Kleinstadt Ordu an der pontischen Schwarzmeerküste. Dort ist seine Großmutter aufgewachsen. In Ordu begann die Terrorisierung und Vertreibung der türkischen Griechen als Reaktion auf die Beschießung der Stadt durch die russische Marine am 9. August 1917. Das Szenario glich dem, das zwei Jahre zuvor zum Völkermord an den türkischen Armeniern geführt hatte. Die jungtürkische Propaganda hatte schon zu Beginn des Krieges das demagogische Phantasma entwickelt, die Kriegserfolge der christlichen Russen würden durch den Verrat einer fünften Kolonne begünstigt, zu der sich die türkischen Christen (also vor allem Armenier und Griechen) zusammengeschlossen hätten. Die armenischen Bürger Ordus waren schon 1915 mit dieser Begründung auf Todesmärsche ins Landesinnere getrieben worden.

Zeitgeschichte: Mirko Heinemann: Die letzten Byzantiner. Die Vertreibung der Griechen vom Schwarzen Meer. Eine Spurensuche. Ch. Links Verlag, Berlin 2019. 264 Seiten, 25 Euro.

Mirko Heinemann: Die letzten Byzantiner. Die Vertreibung der Griechen vom Schwarzen Meer. Eine Spurensuche. Ch. Links Verlag, Berlin 2019. 264 Seiten, 25 Euro.

Nun herrschte Panik im Viertel der Griechen, die für sich ein ähnliches Schicksal befürchteten. Sie drängten auf Boote und suchten Zuflucht auf den russischen Kriegsschiffen, die freilich nicht alle von ihnen aufnehmen konnten. Die fünfzehnjährige Alexandra - sie sollte Mirko Heinemanns Großmutter werden - ist damals an Bord genommen und gerettet worden.

Der Enkel schildert seine Reisen an die Orte ihrer Kindheit und ihres Exils. Und er setzt seine Familienerzählung in Beziehung zu ausgedehnten Lektürereisen durch die blutige Geschichte Kleinasiens im frühen 20. Jahrhundert und weiter in die Vergangenheit hinein. Die "pontischen Griechen", zu denen Mirko Heinemanns Familie gehört, haben seit dem achten Jahrhundert vor Christus an der kleinasiatischen Schwarzmeerküste gelebt und diese Landschaften intensiv kulturell geprägt. Man kann die kleinasiatisch-griechische Gegenwart nicht verstehen ohne eine Vorgeschichte, die bis in die Antike zurückreicht.

In historisch gediegenen und leserfreundlich geschriebenen Exkursen und Reiseberichten führt Heinemann in Landschaften, Konfliktzonen und Zeiträume, die deutschen Lesern so gut wie unbekannt sind. Dieses Unwissen ist unter anderem deshalb erstaunlich und unverständlich, weil es in seinem Buch um die Geschichte mitgliederstarker Minderheiten in der Bundesrepublik geht. Diese historischen Ereignisse liegen noch nicht lang zurück. Sie sind noch Teil eines lebendigen familiären Erinnerungszusammenhangs.

Deutsche Diplomaten, Ärzte, Krankenschwestern und Militärs waren Zeugen der Vorgänge

Heinemann erzählt eine unsichtbare Voraussetzung der Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik. "Die letzten Byzantiner" macht zeitgenössischen Lesern darüberhinaus aber auch bewusst, dass das Deutsche Reich als Verbündeter des osmanischen zumindest als Beobachter nah involviert gewesen ist in die Genozide, den Terror und die Vertreibungen im kleinasiatischen "Theatre of War" während des Ersten Weltkriegs.

Deutsche Diplomaten, Ärzte, Krankenschwestern und Militärs gehörten zu den informiertesten Zeugen der Vorgänge. Die Berichte, in denen sie vielfach unüberhörbar Alarm schlugen, führten allerdings nicht zu wirksamen Interventionen Berlins gegenüber dem osmanischen Kriegsverbündeten. Mirko Heinemanns Buch führt deutschen Lesern demnach nicht nur das Schicksal der pontischen Griechen vor Augen, sondern auch ein vergessenes und nicht besonders ruhmreiches Kapitel ihrer eigenen Geschichte.

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