Zeitgeschichte:Die Möglichkeit des Neubeginnens

Auch die Schattenseiten einer großen Intellektuellen: Das Deutsche Historische Museum in Berlin ergründet Leben und Werk Hannah Arendts. Derzeit in einem grandiosen Katalog und einer Ausstellung im Internet.

Von Jens Bisky

Wahrscheinlich könnte man mit Sätzen Hannah Arendts viele politische Debatten der Gegenwart in Bewegung und zum Tanzen bringen und dem öffentlichen Gespräch damit austreiben, was ihm am meisten schadet, seine Vorhersehbarkeit. Ihrem Aufsatz "Verstehen und Politik" stellte sie 1953 einen Aphorismus Franz Kafkas voran: "Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine; aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht". Wie sie, geboren 1906 in Linden, heute ein Stadtteil von Hannover, 1933 knapp aus Deutschland entkommen, 1941 in die USA emigriert, gestorben 1975 in New York, ihre Zeit verstand, welche ihrer Überlegungen abgetan scheinen und welche aktuell, hätte sich in einer Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin prüfen lassen, die Ende der vergangenen Woche eröffnet werden sollte. Neben persönlichen Gegenständen - einer Kette aus Jadeperlen, einem Zigarettenetui, ihrer Aktentasche, einem ungeheuer eleganten Pelzcape - hätten Bücher und Aufsätze im Zentrum gestanden. Schriften wie ihre Dissertation über den "Liebesbegriff bei Augustin", erschienen 1929, und ihre Studien über Rahel Varnhagen, die sie 1933 im wesentlichen fertiggestellt hatte, die aber auf deutsch erst 1959 veröffentlicht wurden: "Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik".Selbstverständlich wäre es auch um ihr Hauptwerk gegangen, "Origins of Totalitarianism" (1955) und um ihren Bericht über die "Banalität des Bösen" (1963).

Fotos und einige Hörcollagen präsentiert das geschlossene Museum im Netz (www.dhm.de). Erschienen ist bereits das Buch zur Ausstellung "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert". Essays, von denen nicht einer langweilig ist, behandeln einzelne Aspekte des Lebens wie des Denkens der Hannah Arendt: das Verhältnis zum Zionismus, ihre Eindrücke aus Nachkriegsdeutschland, ihr Wiedergutmachungsverfahren, den Streit um ihre Berichte vom Eichmann-Prozess in Jerusalem, ihre Liebe zu Martin Heidegger, ihre Freundschaften, ihre Erfahrungen auf der Flucht, aus denen sie das "Recht, Rechte zu haben" ableitete. Wie hielt sie es mit dem Feminismus? Wie stand sie zu den Vereinigten Staaten? Wie dachte sie über Kolonialismus, Imperialismus? Die Studentenbergung?

Arendt schrieb Ralph Ellison einen Brief, in dem sie ihren Irrtum eingestand

Der Band bietet keine abschließenden Darstellungen, kein "Arendt-to-go", er porträtiert vielmehr eine Denkerin, der man auch dort interessiert zuhört, wo man ihr leidenschaftlich widersprechen möchte. Zu kurz kommt ihr Verhältnis zu den kommunistischen Parteien und Intellektuellen, aber auch so gelingt die wechselseitige Erhellung von Arendts Denken und Geschichte im 20. Jahrhundert.

1964 sagte sie zu Günter Gaus, der sie für seine Fernsehreihe "Zur Person" interviewte: "Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwie im Hinterkopf - in the back of my mind -; das ist natürlich nie wieder zu erreichen." Das "poetische Archiv" schreibt die Germanistin Barbara Hahn, habe Arendt im Englischen gefehlt, sie aber im Exil die Welt der englischen und zeitgenössischen amerikanischen Poesie erkundet und sich mit W.H. Auden, Richard Howard, Randall Jarrell und Robert Lowell befreundet, die ihr Gedichte widmeten. In all ihren theoretischen Texten arbeitete sie mit Literatur, zitierte Romane, Gedichte, Epen.

Hannah Arendt an der University of Chicago
1966
© Art Resource, New York, Hannah Arendt Bluecher Literary Trust

Hannah Arendt an der University of Chicago 1966.

(Foto: Art Resource, New York, Hannah Arendt Bluecher Literary Trust)

In "Origins of Totalitarianism" paraphrasierte sie Proust, aber in der deutschen, nicht übersetzten, sondern neu geschriebenen Fassung "Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft" mutete sie den Lesern französische Zitate zu; nicht allen war eine Übersetzung beigegeben. In der globalisierten Welt, so Barbara Hahn, "wäre das nicht mehr möglich". Als die Zeitschrift New Yorker 1966 Arendts Essay über Bertolt Brecht veröffentlichte, war darin nicht eines von dessen Gedichten übersetzt. Einsprachigkeit erschien ihr als Gefahr, "die künstlich gewaltsame Vereindeutigung des Vieldeutigen".

Zu Arendts verstörenden Texten gehören ihre "Reflections on Little Rock". 1957 in der Stadt in Arkansas schwarze Schülerinnen und Schüler am Betreten der Highschool gehindert, die Bundesregierung schickte Truppen, sie zu schützen. Arendt aber beharrte darauf, dass Diskriminierung ein gesellschaftliches Recht sei, so wie Gleichheit ein politisches. Beides wollte sie unterschieden wissen. Es sei nicht Aufgabe, Diskriminierung abzuschaffen, sondern sie auf den Bereich der Gesellschaft zu beschränken. Es sei falsch, Eltern zu zwingen, ihre Kinder in eine integrierte Schule zu schicken. Der Politikwissenschaftler Roger Berkowitz lässt die verständlicherweise scharfe Kritik an Arendts Aufsatz Revue passieren. Gegen ihr Argument, die schwarzen Eltern sollten ihre Konflikte selbst austragen, nicht die Kinder vorschicken, wandte der Schriftsteller Ralph Ellison ein, dass es die Aufgabe schwarzer Eltern sei, ihre Kinder auf eine feindliche, eine rassistische Welt vorzubereiten.

Arendt schrieb ihm einen Brief, in dem sie ihren Irrtum eingestand und zugab, "die Situation schwarzer Kinder in zwangsintegrierten Schulen" missverstanden zu haben. Berkowitz weist darauf hin, dass sie ihre Kritik an der gerichtlichen Anordnung gemeinsamer Beschulung dennoch nicht zurückgenommen hat, dass sie politische Gleichberechtigung forderte, aber "das Prinzip der Gleichheit in der sozialen und privaten Sphäre als gefährlich" ablehnte.

Affidavit von Hannah Arendt
New York, 18. Januar 1949
© Washington D.C., The Library of Congress, The Hannah Arendt Papers

"Affidavit" (eine Bürgschaftserklärung) von Hannah Arendt, New York, 18. Januar 1949.

(Foto: Washington D.C., The Library of Congress, The Hannah Arendt Papers)

Arendt habe, erinnert sich ihr Assistent Jerome Kohn, unbefangen zugegeben, "dass sie zu verschiedenen Anlässen verschiedene Masken trage, sie betonte jedoch immer, dass die Stimme, die durch diese Masken drang, erkennbar die ihre war". Was zeichnete diese Stimme aus? Die Essays geben verschiedene Antworten, kommen aber in darin überein, dass Hannah Arendt der Urteilskraft höchste Bedeutung beimaß. Man könne in politischen Diskussionen, schreibt Antje Schrupp, auf Fakten hinweisen, eine Meinung äußern oder urteilen. Letzteres heiße, "objektives Wissen" und "subjektives Meinen" zusammenzuführen und "Verantwortung für die Folgen des eigenen Sprechens" zu übernehmen. Geschulte Urteilskraft und Mut zum Urteil dürften willkommen sein, wenn die Arendt-Ausstellung in Berlin endlich eröffnen kann.

Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.): Hannah Arendt und das zwanzigste Jahrhundert. Piper Verlag, München 2020. 288 Seiten, 22 Euro.

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