Zeitgenössischer Tanz:Jedes Ich hat seinen Raum

Lesezeit: 2 min

Doppelpack: Simon und Purucker im Schwere Reiter

Von Eva-Elisabeth Fischer, München

Die dicken Menschentrauben auf dem Gelände zieht es zum Bling-Bling-Weihnachtsbudenzauber auf dem Schwere-Reiter-Gelände, die wenigeren ins Schwere Reiter selbst zur "Double Bill Simon/Purucker". Kein Ton dringt diesmal von draußen ins Schwere Reiter, wo bald die künstlerischen Lichter ausgehen, obgleich das Gebäude an sich ja bestehen bleibt. Micha Purucker lässt an diesem Abend Zufit Simon den Vortritt für ihr Erfolgsduett "Adom Modulations", mit dem sie in den zwölf Jahren seit seiner Uraufführung rund 30 Gastspiele absolvierte. Jetzt erstrahlen ihre "Rot-Modulationen", denn "adom" ist das hebräische Wort für "Rot", in neuem, diffusen Licht, vor allem aber irisierend, mal knisternd, mal pumpernd, mal puckernd, neu getaktet von Fredrik Olofsson. Auch Simons Partnerin ist neu.

Selbstbespiegelungen zu zweit, aber auch ganz allein

"Adom", ausgesprochen wie "Adam" (die hebräische Schrift kennt ja keine Vokale), bedeutet "Mensch". Und der Mensch aus Fleisch und Blut ist in der Sprache der Bibel ein Mann, aber bei Zufit Simon zum weiblichen Doppelwesen verschweißt. Simon selbst liegt ausgestreckt auf dem Boden, in immer neuen Variationen verschränkt mit der dunkelhäutigen Lois Alexander - Yin und Yang in ununterbrochener molluskengleicher Bewegung. Zwei in eins gewinnen, zwar immer noch aufeinander als Stützen angewiesen, allmählich an Selbständigkeit in vollendeter Synchronität, bis sie sich am Ende hochgearbeitet haben zu individuellen Persönlichkeiten, deren Einzigartigkeit sich ausschließlich durch die tänzerische Bewegung manifestiert.

Micha Purucker abstrahiert das Wesen des jeweiligen Protagonisten für seine beiden Solo-Porträts "deviant answers - local time" und "es wird gesagt, sie leben in kleinen hotels ... skizze zu jean genet" (Letzteres die Uraufführung des Abends) in minimalistischen Posen. Beiden Stücken liegen Intervieweinspielungen zugrunde. Zum einen mit David Bowie, dem Purucker gleich nach dessen Tod die "devient answers" widmete, dann mit dem französischen Schriftsteller Jean Genet in "es wird gesagt". Beiden Schwulenikonen leiht der slowakische Tänzer Michal Heriban, die sensiblen Gesichtszüge durch einen Vollbart geschützt, seinen schlanken, biegsamen Körper beim Voguing mit rollenden Schultern auf einem unsichtbaren Laufsteg. Bei Bowie tanzt er das Androgyne mittels Hüftknick aus. Als Partner dient ihm das eigene Video-Spiegelbild. Auf selbst gesetztem engstem Raum tanzt er in Zeitlupe an gegen den Großstadt-Beat von Robert Merdzo. Für Genet setzt Heribon, unausgesetzt konfrontiert mit dessen Fotoporträts, ruckartige Bewegungen gegen Merdzos hypnotisches Gitarrenrock-Crescendo. Tanzend nimmt er sich Raum, entflieht so Genets gelebter Knastzellen- und Hotelzimmerenge, niedersinkend wie ein Frauenakt und am Ende in Kreuzigungspose als Selbsterlöser.

© SZ vom 18.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: