Süddeutsche Zeitung

Zeitgenössische Musik:Schneekönig

Der dänische Komponist Hans Abrahamsen wird gerade viel gespielt. Mit seiner "kalten Expressivität" gelingt es ihm, eine besondere Tiefenwirkung zu erzeugen.

Von Michael Stallknecht

"Molto tranquillo e lontano e legato" lautet die Spielanweisung zum letzten Satz des Dritten Streichquartetts von Hans Abrahamsen: "sehr ruhig und fern und gebunden". Immer langsamer bewegen sich die Klänge, bis sie schließlich nicht mehr von der Stelle kommen. Wie Wasser, das langsam einfriert, immer träger wird, bis es sich schließlich in Eis verwandelt hat.

Zu hören war dieses Stück dieser Tage im Nachtkonzert des Münchener Kammerorchesters (MKO), das Hans Abrahamsen eines seiner Porträtkonzerte in der Pinakothek der Moderne widmete. Der dänische Komponist galt lange als Geheimtipp aus der in Zentraleuropa wenig rezipierten skandinavischen Musikwelt, scheint aber jetzt deutlich stärker auch international in den Fokus zu rücken. Am übernächsten Wochenende wird Kirill Petrenko, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, in München zwei neue Lieder von Abrahamsen zur Uraufführung bringen.

Den Grundstock für die neue Aufmerksamkeit legte vor allem "let me tell you", ein gut halbstündiges Melodram, das die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan in den letzten Jahren bei Konzerten in der halben Welt gesungen hat. Im vergangenen Jahr ist es mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auch auf Platte erschienen (Winter & Winter) und brachte Hans Abrahamsen den renommierten Grawemeyer Award für Komposition.

In "let me tell you" mischen der Komponist und sein Textdichter Paul Griffiths die 481 Wörter der Ophelia aus Shakespeares "Hamlet" neu. So sollen die Gefühlszustände der Figur ausgeleuchtet werden, ihre Ängste, ihr aussichtsloses Warten, aber auch die Ruhe, die sie aus dem Sprechen über all das am Ende gewinnt. Ophelia geht da nicht wie in Shakespeares Tragödie über den ihr untreuen Dänenprinzen ins Wasser, sondern ins ewige Eis. "Like walking in the snow" lautet eine Spielanweisung des Komponisten für den Schlagzeuger, der ein Blatt auf einer großen Trommel reibt, was einen so zarten wie eindringlichen Effekt ergibt.

Diese Musik kommt aus der Stille, verharrt aber nicht im Winterschlaf

Der Schnee ist eine zentrale Metapher im Werk von Hans Abrahamsen, nicht nur im Titel seines gleichnamigen einstündigen Ensemblewerks. Im Moment arbeitet er an seiner ersten Oper nach Hans Christian Andersens "Schneekönigin". An dem Stoff fasziniere ihn der Bruch der Unschuld im Erwachsenwerden, sagt Abrahamsen im Gespräch vor dem Nachtkonzert des Münchener Kammerorchesters: die Ironie, die sich dann einstelle. "Man sieht die Fehler in der Welt." In seiner Erinnerung, sagt er, habe in seiner Kindheit immer viel mehr Schnee gelegen als heute. Hans Abrahamsen ist selbst ein auf fast kindliche Weise zerbrechlich wirkender Mensch, der nach einer frühkindlichen Erkrankung bis heute mit leichten körperlichen Einschränkungen lebt. Der Erfolg von "let me tell you", sagt er, beeinflusse seine Arbeit nicht. Dazu sei er mit inzwischen 64 Jahren einfach zu alt, habe schon genug Höhen und Tiefen durchgemacht.

Als größte Tiefe könnte von außen vielleicht die Phase zwischen 1990 und 1998 erscheinen, in der Abrahamsen nur ein einziges Lied zu Papier brachte. Dabei war der Komponist Hans Werner Henze schon früh auf das dänische Talent aufmerksam geworden, hatte ihm zu Beginn der Achtzigerjahre einen Kompositionsauftrag der Berliner Philharmoniker vermittelt. Doch irgendwann kam die Zeit, die Abrahamsen heute seinen "Winterschlaf" nennt. "Man könnte sagen, dass ich nicht den Mut hatte zu sprechen", sagt er. "Man könnte aber auch sagen, dass ich den Mut hatte zu schweigen." Er suchte in dieser Zeit nach neuer Inspiration in der Hamburger Kompositionsklasse György Ligetis, arbeitete außerdem eigene und fremde Werke um.

Tatsächlich ist Abrahamsens Musik eine, die aus der Stille kommt, den leisen Farben eher den Vorzug gibt vor den lauten. Sie geht äußerst vorsichtig mit ihrem Material um, behandelt es kostbar. Doch im Gegensatz zu manchen Vertretern einer neuen Einfachheit in der zeitgenössischen Klassik klingt sie dabei nie simplizistisch, weil sie unterhalb der oft leise zitternden Oberflächen über eine große Materialvielfalt verfügt. Nicht immer liegt diese so offen zu Tage wie in den "Ten Sinfonias", die man beim Nachtkonzert des MKO hören konnte. In einer Überschreibung des eigenen Ersten Streichquartetts aus Jugendtagen - Abrahamsen hat sich das Verfahren der Mehrfachüberarbeitung eigener Jugendwerke aus der Zeit des "Winterschlafs" bewahrt - hört man Einflüsse aus der Minimal Music, von Strawinskys Rhythmen, aber auch weite melodische Bögen und schließlich gar im letzten Satz ein neobarockes Stück in offenem C-Dur.

"Kalte Expressivität" nennt er selber seinen Stil. Es klingt geheimnisvoll und schön

Doch auch wo er solche Einflüsse eher verbirgt, arbeitet Hans Abrahamsen stark kontrapunktisch, sein Ensemblewerk "Schnee" etwa besteht fast ausschließlich aus Kanons. Dies verleiht seiner Musik eine stark räumliche Dimension, eine mehrdimensionale Tiefenwirkung. Zu spüren ist hier auch der Einfluss von Abrahamsens wichtigstem Lehrer Per Nørgård, der sich oft von mathematischen Modellen inspirieren lässt.

Seine Musik sei sehr konstruiert, sagt Abrahamsen selbst, strebe aber paradoxerweise zugleich nach einer immer größeren Einfachheit. Denn er schmilzt die komplexen Strukturen ein in einen unverkennbaren Personalstil, bedeckt sie quasi mit einer Schneeschicht, unter der sie unmerklich fortvibrieren wie die Moleküle in einem Eiskristall. So entstehen die charakteristischen Winterlandschaften, denen immer etwas Unwirkliches eignet. Wie wenn im Doppelkonzert für Violine und Klavier, das Carolin Widmann und Tanja Zapolski mit dem MKO spielen, die Geige in höchster Lage über dem Orchester schwebt, während gleichzeitig das Klavier einzelne Klänge in die flächige Textur fallen lässt wie zufällige Naturereignisse in den Schnee.

Hans Abrahamsens Musik hat etwas sehr Natürliches, wie die Natur spricht sie eine Einladung aus und wird doch dabei niemals zudringlich. Kristallin und licht liegt sie vor dem Ohr des Hörers offen, ohne sich bei ihm einschmeicheln zu wollen. Damit bewahrt sie sich zugleich ein Geheimnis, dessen Rätselhaftigkeit sie umso anziehender macht. Man kann darunter einiges vermuten, auch heftigere Emotionen. Gelegentlich brechen diese auch aus wie im zweiten Satz des Doppelkonzertes, wo - "Schnell und unruhig" - ein aufgewühltes Gestöber über den Hörer niedergeht, bevor sie sich im letzten Satz - "Lebhaft und Zittern" - wieder unter die leise Schneedecke zurückziehen. Seine "kalte Expressivität" nennt Abrahamsen das selbst: "Wenn man besonders von Emotionen erfüllt ist, muss man manchmal zugleich besonders kalt sein."

Man muss Hans Abrahamsens Winterlandschaften zweifellos schön nennen, sie bergen aber zugleich immer die Ahnung des Schreckens. Mit dem Schnee zu verschmelzen, bedeutet Befreiung wie Gefahr zugleich. Gut möglich, dass sich hier ein Komponist die Schneelandschaften seiner Kindheit wieder rekonstruiert, auch mittels der fortgesetzten Überschreibung der eigenen früheren Werke. Aber er leugnet dabei zugleich nicht den Bruch der Unschuld, der sich seitdem unweigerlich vollzogen hat.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3574374
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 06.07.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.