Zeitgenössische Kunst:Draußen vor der Stadt

Zeitgenössische Kunst: Die Verhältnisse auf den Kopf stellen und zum Fliegen bringen: Ansicht der Ausstellung, im Hintergrund Ismail Alaoui Fdilis Beton-Stühle.

Die Verhältnisse auf den Kopf stellen und zum Fliegen bringen: Ansicht der Ausstellung, im Hintergrund Ismail Alaoui Fdilis Beton-Stühle.

(Foto: Aurelien Mole; Palais de Toyko/Aurélien Mole)

Der alte und der neue Hass: Eine Pariser Ausstellung junger Künstler befragt das Verhältnis zwischen Jugendlichen der Banlieue und dem Rest der französischen Gesellschaft.

Von Joseph Hanimann

Ein Weg für die Polizeigewalt, aus den Schlagzeilen zu kommen, wäre der über die Kunst. Zum Beispiel im Palais de Tokyo, dem Pariser Museum für neue Kunstformen. Eine klug ausgesuchte Themenvorgabe geht dort der Frage nach, was innerhalb einer Generation geworden ist aus dem Hass der Vorstadtjugend auf die Polizei und die ganze Gesellschaft, seit die Sache 1996 in Mathieu Kassovitz' Kultfilm "La Haine" im Mittelpunkt stand. Der Tod des jungen Abdel Ichaha während eines Polizeiverhörs löste in jenem Film eine Frusttour dreier Jugendlicher durch die Quartiere, Betonsiedlungen und Kneipen der Vorstadt aus. In dem vor einem Jahr herausgekommenen Film "Les Misérables" (Die Wütenden) von Ladj Ly stand ebenfalls ein Fall von Polizeigewalt im Mittelpunkt. Handelt es sich ein Vierteljahrhundert später noch um denselben Hass?

Das war in diesem Frühjahr die Frage an zwei Dutzend Absolventen der Kunst- und Filmschule "Kourtrajmé", die Ladj Ly vor zwei Jahren in der Pariser Vorstadt zwischen Clichy-sous-Bois und Montfermeil, dem Ort seiner Jugend, gegründet hat. Es ist auch der Ort, an dem 2005 der Tod zweier von der Polizei verfolgter Jugendlicher in einem Trafohäuschen die großen Unruhen auslöste. Die Antworten der jungen Künstler sind nun ein paar Tage lang unter dem Titel "Jusqu'ici tout va bien" (Bisher läuft alles gut) im Palais de Tokyo ausgestellt. Kassovitz, Ladj Ly und der Fotokünstler JR fungieren als Nebenkuratoren.

Ganz so rund läuft es natürlich nicht. Spannungen, Frustration und Hass sind eine Generation später immer noch da. Sie sind aber verhandelbar und offensichtlich künstlerisch konstruktiv geworden. Die mit minimalem Aufwand entstandenen Grafik-, Foto-, Installations- und Videoarbeiten bieten vielfältige Antworten auf die Frage nach den heutigen Deklassierungsgefühlen. So wundert sich die Künstlerin Émilie Pria, dass Frauen in "La Haine" nur als gesichtslose Mütter und Schwestern auftauchen, und hat deswegen mit archäologischer Akribie das mutmaßliche Zimmer der Nebenfigur Sarah nachgebaut, mit dem Möbeldesign, der Mode und den Postern der Neunzigerjahre, noch ganz ohne iPhone und Facebook.

In einem anderen Beitrag hat die in Dakar geborene Tiah Mbathio Beye in Anspielung auf den jüngsten Covid-Lockdown einen engen Vorstadtbalkon als Ort inszeniert, an dem die Verbitterung über das feindselige "Draußen" eingesperrt, ausgestellt und manchmal herausgebrüllt wird. Die 1991 geborene Joyce Kuoh-Moukouri wiederum hat ausgerechnet, dass 233 Straßen in Paris den Namen von Leuten tragen, die mehr oder weniger ins Kolonialregime involviert waren, und projiziert auf die Hausfassaden die entsprechenden Fotos dazu.

Ist aus dumpfer Wut also doch künstlerische Kreativität geworden?

In keiner anderen Ausstellung jüngerer Zeit spielte wohl aber die Polizei eine so zentrale Rolle wie hier. Mehrere Künstler haben ganze Polizeiautos installiert, besprayt, demoliert. Tiziano Foucault-Gini hat nach Albrecht Dürers Manier in einer Serie Kohlezeichnungen die Splitter von Polizeigeschossen bei Demonstrationen dargestellt, als wären sie wertvolle Reliquien. Ismail Alaoui Fdili kombiniert das seit 1981 weltweit millionenweise vertriebene Plastikstuhlmodell "Monobloc" der Firma Grosfillex mit dem Beton der Vorstädte, indem er ein Dutzend solcher Stühle in Beton nachgegossen und damit den jugendlichen "Spähern", die auf solchen Stühlen sitzend die Dealer vor dem Heranrücken der Polizei warnen, ein Denkmal gesetzt hat. Eindrücklich ist auch der Beitrag von Aristide Barraud. Er hat jenem Abdel Ichaha, von dem man im Film "La Haine" so gut wie nichts erfährt, auf einer ganzen Wand mit Fotos, Aufzeichnungen und Souvenirs, ausgehend von seiner eigenen Jugend und der seiner Freunde, eine fiktive Biografie geschaffen.

Ist aus der ehemals dumpfen Wut innerhalb einer Generation also doch künstlerische Kreativität geworden? Schön wäre es. Außer deutlich verbesserten Wohnverhältnissen habe die Lage in Clichy-sous-Bois und Montfermeil sich wenig verändert, sagte Ladj Ly in den Interviews zur Filmpremiere von "Les Misérables" vor einem Jahr. Mit der von ihm und einigen Komplizen gegründeten Schule "Kourtrajmé" hat er selber jedoch einen erheblichen Beitrag geleistet, um die lähmende Konfrontation der Ängste zwischen Polizisten, Jugendlichen und Bevölkerung zu hinterfragen, zu durchleuchten oder gar zu lindern.

Entsprungen sind die Idee und der Name dieser Schule - eine Silbenverdrehung des Worts court-métrage, Kurzfilm - aus einem Künstlerkollektiv dieses Namens, das seit Mitte der Neunzigerjahre in der Vorstadt mit Fotoarbeiten, Bildgeschichten und Kurzfilmen die Themen Gewalt, Sexismus, Rassismus, Drogen bearbeitet. Voraussetzungen an Kenntnis oder Alter gibt es keine an dieser kostenlosen Schule für bildende Kunst, Filmregie, Kamera, Schnitt, Drehbuchschreiben und Schauspiel. Die Auswahl der Kandidaten ist aber streng und der Ausbildungsgang stets auf konkrete Projekte ausgerichtet. Viel passiert dabei über die Kontakte der beteiligten Künstler. Ab diesem Herbst wird es einen Ableger in Marseille geben und danach auch in Dakar. Meisterkurse mit Spike Lee, George Lucas oder Sara Sadik verleihen der Schule eine internationale Ausrichtung. "Banlieue" ist nur noch ein aufgedunsenes französisches Deckwort, das die Verspannungen der offenen Gesellschaft zwischen Deklassierungsfrust, überforderter Polizei und schamlos wieder aufflammendem Rassismus längst nicht mehr fasst. Die Banlieue ist ein Vorposten nicht mehr nur von Stadt, sondern von Weltgefühl.

Jusqu'ici tout va bien. Werkstattarbeiten der École Kourtrajmé. Palais de Tokyo, Paris. Bis 7. September.

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